Arbeitnehmer kündigen eher aufgrund schlechten Betriebsklimas denn fehlender Karrierechancen. 94% der Beschäftigten würden bleiben, selbst wenn sie Gelegenheit zu einem Wechsel hätten, sagt die Verdi Studie zur Wechselbereitschaft im Dienstleistungssektor (Juni 2015). Obwohl hier nur eine Branche gezeigt wird, trifft die Aussage vermutlich für weitere Branchen zu.
Das Ergebnis der Studie können Sie an ihrer eigenen Nase ablesen: Wie oft haben Sie die Firma ausschließlich aufgrund mangelnder Karrierechancen gewechselt? Gab es diese Situation überhaupt oder haben Sie überwiegend gewechselt, weil Ihnen Management, Vorgesetzte, Kollegen nicht mehr gepasst haben?
Innere Kündigung wird nur isoliert betrachtet
Lange bevor Sie äußerlich gekündigt haben, gab es schon eine innere Kündigung. Zum Begriff der Inneren Kündigung gibt es einiges an Recherchematerial – meist wird isoliert die Person betrachtet und man versucht Messgrößen zu erarbeiten, ob und wann eine innere Kündigung vorliegt. Was mich grundsätzlich stört, ist zunächst die Verallgemeinerung: es gibt nicht DIE innere Kündigung, sondern vielfältige Facetten davon. Was weiterhin in der bisherigen Betrachtung fehlt, ist die Sicht aufs Ganze. Zwar wird betriebswirtschaftlich definiert, welche Kosten die innere Kündigung verursachen kann, leider spielen hier nur Messgrößen wie Neuakquise und Einarbeitung neuer Mitarbeiter eine Rolle. Nicht beobachtet wird die Ansteckungsgefahr einer inneren Kündigung auf das gesamte Unternehmen.
Unser eigenes Warnsystem läßt uns kündigen
Vermutlich gab es lange vor Ihrer letzten Kündigung einem bestimmten Zeitpunkt, an dem Sie feststellten, dass etwas nicht gut lief. Vielleicht war der Einstiegsgrund banal – im Meeting hat ihr Chef Sie nicht ausreden lassen, ihr Vorschlag wurde abgebügelt, in der Kaffeeküche war Ihre Lieblingstasse auf einmal verschwunden. Und wie es oft so ist: ab diesem Zeitpunkt nahmen Sie immer mehr Negatives wahr und im Laufe von Wochen und Monaten entwickelte sich eine Abwärtsspirale, aus der sie selbst nicht mehr herausklettern konnten.
Der Zustand der inneren Kündigung ist die letzte Schleife dieser Abwärtsspirale und kommt einem persönlichen Koma gleich. Üblicherweise bekommen wir auf dem Weg nach unten in dieser Spirale Warnhinweise – mental oder körperlich -, die uns kündigen lassen. Wer diese Reißleine nicht mehr ziehen kann, gerät unweigerlich in die letzte Phase und hält absurderweise an seinem Arbeitsplatz trotz völliger Negativität fest. Man entfernt sich mental so weit vom Arbeitsplatz, dass er sich entmaterialisiert.
Innere Kündigungen sieht man in der Kaffeeküche
Bei IBM sagt man lt. Gunter Dück: „Man bewirbt sich bei einer Firma, aber man kündigt bei seinem Boss.“ Eine schlechte Führung, ein schlechtes Management sind mit die Hauptursache für Kündigungen und sind ein Garant für ein schädliches Betriebsklima, dies belegt auch die Verdi-Studie. Der Punkt ist, dass schlechtes Betriebsklima nicht über Nacht da ist, sondern dass es eine ganze Weile dauern kann, bis es sich zeigt und noch länger, bis der/die Einzelne dann auch tatsächlich mit Kündigung reagiert. Ein Indiz für das Vorhandensein von inneren Kündigungen kann z.B. der Zustand der Kaffeeküche sein, wenn dort keine externen Reinigungskräfte wie die Heinzelmännchen wirken: Wie schmutzig sind die Handtücher, die dort hängen? Wie viele benutzte Kaffeebecher stehen auf der Arbeitsfläche, obwohl die Spülmaschine leer ist? Wie viele leere Pfandflaschen stehen dort herum?
Galgenhumor-Klima als Motivationsanker
Oft ist es so, dass in so einer negativen Spirale absurderweise andere, ebenfalls unzufriedene, KollegInnen Halt geben können. Wenn „Galgenhumor-Klima“ herrscht, kann das die eigenen Wechselabsichten monatelang hinauszögern. Man ist sich einig darüber, dass der Chef ein Idiot, Projekte falsch konzipiert und geplant, die Zentrale unfähig, etc. ist. Man ist latent auf dem Sprung, schaut nach anderen Jobangeboten, läßt sich von Headhuntern kontakten, schreibt Bewerbungen – ist aber noch weit entfernt von einer tatsächlichen Kündigung.
An diesem Punkt muss ein Vorstellungsgespräch bei einem potentiellen neuen Arbeitgeber schon verdammt gut laufen und die neue Stelle enorm viel mehr bieten als die aktuelle, denn in diesem Stadium herrscht im Team eine Art „Galgensolidarität“, die in weitere Phasen der Inneren Kündigung führt. Allen geht es schlecht und aufgrund des Wissens um die kollektive Verstimmung entsteht kollektiver Leidensdruck, doch der übersteigt noch nicht den individuellen. Ist das Kaffeeküchenklima in dieser Phase noch gut, tauscht man sich vielleicht sogar über die gegenseitigen Wechselabsichten aus und versichert sich regelmäßig der schlechten Situation.
Belohnungsanreize in diese Zeit gesetzt, z.B. eine unerwartete Gehaltserhöhung oder Beförderung, lindern diesen Zustand nur über einen kurzen Zeitraum. Bessert sich die allgemeine Stimmung im Team nicht, kann selbst eine Gehaltserhöhung in Negativität umschlagen.
Das sinkende Schiff
Ist diese Phase im Team, in der Abteilung oder gar im gesamten System erreicht, geht es weiter bergab: Kündigt der oder die erste aus dem infizierten Team, löst das eine Kettenreaktion aus. Bevor ich in die Freiberuflichkeit umstieg, hatte ich mehrere Male das zweifelhafte Vergnügen, diese Kettenreaktion zu beobachten. Denn jetzt wird es auf einmal nahezu hektisch und eine/r nach dem anderen verläßt das mutmaßlich sinkende Schiff. Jetzt ist man auch für nicht so vielversprechende Angebote anderer Unternehmen offen – Hauptsache weg aus der aktuellen Situation. Schließlich will man auch nicht als Verlierer da stehen.
Das infizierte System wird chronisch krank
Verbleibt man nach solch einem Prozess noch im Unternehmen – vielleicht ganz pragmatisch, weil sich noch nichts Neues gefunden hat, ist auch die Krankheit noch da. Der Virus sitzt nun im System – in Wartestellung. Der Virus sind Sie selbst. Ist die Unternehmensleitung für die eigene Unternehmensentwicklung und -kultur nämlich blind, werden die gehäuften Kündigungen also nicht thematisiert, sondern mit einer „so-ist-es-nunmal-Haltung“ in Kauf genommen und übergangslos neue Mitarbeiter eingestellt, verstärkt sich die Krankheit, vermehren sich die Viren. Dabei darf man ganz auf die verbliebenen „alten“ Mitarbeiter – also auf Sie – setzen. Neuen Kollegen wird ganz bewusst baldmöglichst der Stachel des Unmuts eingepflanzt und man darf sicher sein, dass die Krankheit nicht mehr heilt – ab jetzt ist das Unternehmen chronisch krank.
Chance zur Gesundung
Es besteht allerdings auch die Möglichkeit, sowohl das infizierte System als auch infizierte Individuen zu heilen. Dazu bedarf es vor allem folgender Heilmittel: einer wertschätzenden, selbstreflektierenden Kommunikation mit allen Beteiligten, Empathie auf jeder Seite und den Willen aller zur Veränderung. Leider sind diese Heilmittel sehr schwierig zu beschaffen, außerdem ist ihre Herstellung sehr zeitaufwändig.
Vielleicht schauen Sie vorsorglich mal in Ihrer Firma nach, ob Sie diese Heilmittel dort finden. Ansonsten: gute Besserung!
Bildnachweis:
Tabletten und Zitrusfrüchte: Joujou / pixelio.de
Kaffeetassen: Stefan R. / pixelio.de