Heute vor 100 Jahren, zur Zeit des 1. Weltkriegs, eröffnete in Zürich das Cabaret Voltaire, eine Künstlerkneipe. Die jungen Gründer, Emmy Hennings und Hugo Ball, beide emigrierte Künstler aus Deutschland schufen zusammen mit ihren Komplizen Hans Arp, Tristan Tzara, Richard Huelsenbeck und Marcel Janco einen Ort der Zukunft – hier entstand ein Konzept, das bis heute aktuell geblieben ist: Das Phänomen Dada.
Seek and Destroy?
Dada formulierte ein Konzept für ein radikales individualistisches Kunst- und Gesellschaftsverständnis. Dada erteilte Absagen an den Krieg, die damalige Monarchie, an verkrustete Moralvorstellungen, an geschlossene Kunstwerke, an elitäre Gebilde jeglicher Art. Verkürzt: Dada war die Abkehr und Negation alles Bestehenden, letztendlich auch der eigenen Person. Kunst sollte unmittelbare Lebenspraxis werden.
Im Zuge dieser machtvollen Bewegung, welche alle künstlerischen Stilrichtungen erfasste, entstanden in Europa flüchtige und bleibende Werke: Lautgedichte, Objektkunst, provokativer Körpereinsatz auf der Bühne, Collagen. In Amerika kritisierten zur gleichen Zeit die Künstler Man Ray und Marcel Duchamps den elitären Anspruch von Kunst.
Der erste Schritt zum Musterbruch
„jolifanto bambia o falli bambla…“ So fängt das Gedicht „Die Karawane“ von Hugo Ball an. Unfug? Ja, sicher. Denn Unfug ist etwas, das uns im ersten Moment irritiert, weil wir es nicht verstehen. Unfug ist der erste Schritt zum Musterbruch. Künstlerisch gesehen ist das Gedicht (sowohl in Schriftform als auch in vorgetragener Form) eine sichtbare und hörbare Abkehr von sprachlichen Normen und Bedeutungen und zeigt, wie fragil dieses Verständigungssystem ist. Und es zeigt die Freiheit einer einzelnen Person, dieses System zu dekonstruieren. Ist das Unfug?
Dada am Schreibtisch
In Zürich experimentierten die Dadaisten mit dem „Zufall“ in ihren Gesprächen und ließen daraus Zufallstexte und Simultangedichte entstehen. In Frankreich ergänzte der Surrealismus die Dada-Bewegung. Der Surrealismus lehnt ebenfalls konventionelle (Kunst-)formen ab, indem er das Unbewusste und Traumhafte (u.a. durch die Einflüsse Freuds) darstellen möchte – dies jedoch nicht satirisch wie Dada, sondern ernsthaft, um Wertebilder zu finden und zu definieren. Der französische Schriftsteller André Breton ersann in diesem Kontext die „Écriture automatique“ – ein „Denkdiktat ohne jegliche Kontrolle der Vernunft“ (André Breton). Dabei folgt das Schreiben dem Denken – unzensiert und nicht an Regeln gebunden.
Übung zum automatischen Schreiben
Haben Sie Lust, die „Écriture automatique“ einmal auszuprobieren? Dann sollten Sie zunächst folgende Punkte berücksichtigen:
• Orthografie und Grammatik spielen keine Rolle (sie dürfen auch Wörter „erfinden“ oder Buchstaben wiederholen)
• Der Satzbau muss nicht zusammenhängend oder logisch sein.
• Korrigieren Sie nichts!
• Schreiben Sie schnell und ohne Pause!
Alles klar? Dann legen wir los:
Setzen Sie sich bequem hin, nehmen Sie ein Blatt Papier und einen Stift zur Hand. Wenn Sie das 10-Finger-System sicher beherrschen und gewohnt sind, schnell zu schreiben, sollte das Experiment auch per Tastatur funktionieren. Versuchen Sie den Kopf einen Moment von der üblichen Alltagsroutine zu befreien und atmen Sie kurz tief und ruhig ein. Beim Ausatmen fangen Sie an zu schreiben. Egal was. Sätze, Wörter, Buchstaben, die unmittelbar aus ihrem Denken heraus entstehen. Schnell und ohne Pause. Schreiben Sie solange, bis Sie stocken oder Ihnen nichts mehr einfällt. Korrigieren Sie auf keinen Fall!
Schauen Sie das Geschriebene an. Auch wenn es keinen Bedeutungszusammenhang hat, beobachten Sie, ob Bilder im Kopf dadurch entstehen. Speichern Sie diese oder spielen sie gedanklich mit den Bildern weiter. Vielleicht fällt Ihnen eines der Bilder auf dem Nachhauseweg oder in ein paar Tagen noch einmal ein. Wenn Sie sich daran erinnern, bewahren Sie diesen Moment bewusst, indem Sie für diese sehr kurze Zeit jegliche andere Tätigkeit unterlassen. Nur das Atmen sollten Sie nicht einstellen.
Herzlichen Glückwunsch, das war Ihre erste Fingerübung auf dem Weg zum Musterbruch.
Ein Hinweis noch: In der Kunstwelt dominieren immer noch die männlichen Akteure. Doch es gibt unzählige Künstlerinnen, die ebenso inspirierend wie ihre männlichen Kollegen gearbeitet haben. Bei Dada ist dies u.a. Hanna Höch, die mit den Berliner Dadaisten zusammenarbeitete.
Lust auf mehr Dada?
Zum 100. Geburtstag gibt es die taz als Dada-Sonderausgabe u.a. mit Grafiken von Daniel Richter – falls Sie kein taz-Abo haben, halten Sie am nächsten Kiosk an. Die Kunsthalle Mannheim widmet Hanna Höch ab April 2016 eine Retrospektive.
Herzliche Grüße
Daniela
Zum Weiterlesen, -anschauen und –denken empfohlen:
http://dadaismus.info/
DVD des NZZFormats: http://tvnzzshop.ch/was-ist-dada.html
Künstlerinnen um Kurt Schwitters: http://www.sprengel-museum.de/bilderarchiv/sprengel_deutsch/downloaddokumente/pdf/ks2007_schulz_ks_und_seine_freundinnen.pdf
Biografie Emmy Hennings: http://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/emmy-ball-hennings/
Hanna Höch: http://www.hannah-hoech-haus-ev.de/index.php?id=hannah_hoech
Hanna Höch Retrospektive: http://www.kunsthalle-mannheim.de/de/ausstellung-vorschau/Hannah_Hoech
Grafik- und Fotoquellennachweis: Daniela Röcker
Grafik unter creative commons Lizenz: cc-by-nd Daniela Röcker Kultur-Komplizen