Was Bowie mit Beuys zu tun hat
Begleiten wir in diesem Teil unserer Hommage David Bowie auf seiner letzen Reise – die Single-Auskopplung „Lazarus“ aus seinem finalen Album „Blackstar“. Das Video zu Lazarus ist verstörend, fast beängstigend. Ein gealterter, sehr zerbrechlicher Bowie zeigt sich uns. Am Anfang sehen wir einen dunklen zweitürigen Bauernschrank mit halb geöffneter rechter Tür. Der Raum, in dem der Schrank steht, ist nahezu leer, die Lichtsituation trist und dunkel. Die Kamera zoomt auf die geöffnete Türe ins Dunkle, eine weiße Hand wird sichtbar, die die Türe ganz öffnet, die Kamera zoomt weiter. Sie fährt hinauf an einer Art Stoff, vielleicht eine Decke, an deren Ende sich eine weitere Hand zeigt und ein Mensch, dessen Augen mit Bandagen verbunden sind: Bowie. Knöpfe liegen auf seinen Augen. Er zieht die Bettdecke bis zum Kinn hoch, als ob er Angst hätte. Die Kamera zoomt heraus und gibt den Blick auf eine Art weißes Lazarettbett frei, in dem Bowie liegt. Wände und Boden um das Bett sind weiss gekachelt.
„Look up here, I’m in heaven“,
lautet die erste Zeile von Lazarus. Sieht so der Himmel aus?
Zweimal Bowie
In einer nächsten Sequenz schiebt sich eine lange schmale Hand von unten an der Seite des Bettes hoch bis zur rosafarbenen Decke und dann scheint Bowie zu schweben. Die Kameraperspektive dreht sich und Bowie scheint samt Bett kopfüber zu schweben. Eine weitere Sequenz und Bowie bewegt sich angestrengt im Bett. Schnitt. Dann ist er stehend und im schwarzen engen Outfit in dem Raum zu sehen, in dem der Schrank vom Anfang steht. Er bewegt sich mit eckigen Bewegungen. Nun wechselt die Kamera sich immer wieder ab zwischen dem Bowie im Bett und dem im Raum, der an einem Schreibtisch fast manisch etwas aufschreibt. Es scheint, als ob die beiden kommunizieren.
Das Ende des Videos zeigt den schwarzgekleideten Bowie, weisse diagonale Streifen, die man vorher nur ahnen konnte zeigen sich nun deutlich auf dem enganliegenden Anzug. Bowie zieht sich rückwärts und ruckartig in den Schrank zurück und schließt die Türe. Wer jetzt still bleibt und Bilder, Ton und Musik nachwirken läßt, sieht möglicherweise eigene Bilder und Assoziationen dazu.
Von Bowie zu Beuys
„I’ve got scars that can’t be seen“
Die zweite Zeile im Song führt uns zu Joseph Beuys‘ Aktion „Zeige Deine Wunde“ aus dem Jahr 1976. Diese temporäre Aktion, deren Artefakte heute das Lenbachhaus in München beherbergt, fand in einer als Ausstellungsfläche genutzten Fußgängerunterführung unter der Münchener Maximilianstraße statt. Alle Objekte der Aktion sind je doppelt vorhanden: 2 Leichenbahren, 2 Blechkästen mit Glasscheiben, die von innen mit Fett bestrichen sind, 2 Blechkästen, mit Fett gefüllt und in denen je ein Fieberthermometer und ein Reagenzglas stecken, 2 Einmachgläser mit einem Stück Gaze bedeckt, 2 Schiefertafeln, 2 doppelzinkige Forken um die rotfleckige Tuchfetzen gewickelt sind, 2 Ausgaben der linksgerichteten Zeitung Lotta Continua (zu deutsch: fortdauernder Kampf).
Zeige Deine Wunde, öffne Dich, habe Mut
Wie bei vielen Beuysschen Environments öffnet auch „Zeige Deine Wunde“ ein Spannungs- und Kraftfeld zwischen Polen – einem starren und einem flüssigen, der Bewegung dazwischen, der Wechselwirkung in umgebende Felder. Auf der konkreteren Ebene zielt das Werk auf das Spannungsverhältnis zwischen Leben und Tod ab, dem wir täglich ausgesetzt sind – einem fortwährenden Kampf, einem Kreislauf von Werden und Vergehen, der Verletzlichkeit und Verlorenheit des Menschen.
Die Formulierung „Zeige Deine Wunde“, fordert uns sanft ganz ohne Ausrufezeichen auf, mutig unsere Verletzlichkeit und unsere Verletzungen zu zeigen, zu öffnen, empathisch zu agieren und mit diesem wahrhaftigen Verhalten soziale Wärme zu erzeugen. Wärme als Bindeglied zwischen menschlichen Individuen, die Erstarrtes wieder plastizierbar und gemeinsames Gestalten möglich macht. Begibt man sich gedanklich ins Zentrum der Aktion, in den „Leerraum“ zwischen den Polen, spürt man die Kraft, die von beiden Seiten ausgeht. Auf einer übergeordneten Ebene macht „Zeige Deine Wunde“ auf ökologische und ökonomische Missstände und Wunden aufmerksam. Beuys‘ Aktion löste in den späten 1970ern enorme öffentliche Diskussionen aus – oft aus mangelndem Verständnis. Mancher sogenannte Experte verkürzte die Aktion lediglich auf Beuys persönliche Kriegserfahrungen, die sicherlich bewusst oder unbewusst in vielen seinen Werken stecken, aber eben nur ein Teil des Ganzen sind.
Lazarus-Mythos als Inszenierung
Zurück zu Bowie. Auch er baut in Lazarus ein Spannungsfeld auf. Wer oberflächlich schaut, mag denken, dass Bowie auf den bekannten Lazarus-Mythos referiert, den unzählige Künstler in Werken verewigt haben und den einige Journalisten in ihren Bowie-Nachruf zitierten. Eine biblische Geschichte aus dem Johannesevangelium, in der der bereits tote Lazarus, von Jesus erweckt, wieder lebendig wird. Der Auferstehungsmythos wird von verschiedenen Medien auf Bowies Ableben übertragen.
Der doppelte Lazarus
Wer das Video genauer betrachtet, sieht jedoch in keiner Sequenz irgendeine Auferstehungsszene. Was hat Bowie da gemacht? Oder irren die Medien? Möglicherweise, denn es gibt noch eine weitere Lazarus-Geschichte, ebenfalls biblischer Natur, jedoch aus dem Lukas-Evangelium, das deutlich älter als das Johannesevangelium ist. Dort gibt es die Geschichte vom „Reichen Mann und Lazarus“. Lazarus ist ein Bettler, der auf den Stufen des reichen Mannes auf Brosamen hofft, die von der reichen Tafel abfallen. Beide sterben – Lazarus kommt in den Himmel, der reiche Mann in die Hölle. Der Reiche bittet darum, dass Lazarus seine höllische Pein lindern möge, und bekommt eine Abfuhr: Lazarus habe im Leben gelitten und erfahre nun im Himmel (also im Tod) Frieden, der Reiche habe jedoch ein gutes Leben gehabt und erfahre nun in der Hölle den schmerzhaften Ausgleich.
Diese Geschichte liest sich deutlicher aus Bowies Video und Text als die Auferstehungsgeschichte. Indizien wären u.a. die Textzeile „… I was living like a king“ oder die manische Schreibwut des schwarzgekleideten Bowies und die ruckartigen (schmerzhaften?) Bewegungen, die eher auf den gequälten Reichen deuten. Auch die Knöpfe auf den Augen sind ein reines Totenritual, das in einigen Ländern (mancherorts auch Münzen) heute noch praktiziert wird. Am Ende des Videos steht der Rückzug ins Dunkle. Auferstehung Fehlanzeige.
Schnittstellen bei Bowie und Beuys
Beuys‘ Werk ist hochkomplex und auf den ersten Blick scheint es abwegig, es mit einem Musikvideo zu vergleichen. Dennoch sei ein Vergleich gestattet, denn auch Bowies Video ist komplexer als es scheint: Bowies Spannungsfeld ist persönlich, individuell und in sich geschlossen. Es richtet sich nach innen, aber dennoch blickt Bowie einige Male in die Kamera und setzt so Impulse nach außen.
Beuys adressiert großformatiger die Gruppe, die Gesellschaft und Umwelt, aber auch hier ist das Individuum deutlich spürbar. Schon der Titel richtet sich nach außen in Richtung Rezipient. In Bowies Video ist nicht nur die Lazarus-Geschichte zu lesen, sondern beide Bowies können ebenso als zwei Seiten einer einzigen Person zu lesen sein und deren Beziehung zueinander. Demnach würde auch hier eine Parallele zu Beuys bestehen im Sinne vom Kreislauf des Werdens und Vergehens. Bowie singt am Ende „I’m free like a Bluebird“ und man ist geneigt an den befreienden Flug eines Vogels zu denken, der in ungeahnte Höhen aufsteigt. Bluebird kann jedoch auch ein Codename für Kokain sein, zumindest meinen Recherchen zufolge.
Das schwarze Outfit mit den diagonalen Streifen referiert auf ein frühes Werk Bowies aus dem Jahr 1975 „Station to Station“ – eine Zeit, in der Bowie nach eigenen Angaben einen hohen Drogenkonsum pflegte und sich in den „Thin White Duke“ verwandelte.
„Zu der Zeit lebte ich in einer anderen Welt. Auf einem ganz anderen Stern. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, was zwischen 1975 und 1977 in meinem Kopf vorging.“
(Quelle: Bowie Retrospektive, V&A)
Bowie hat sich zeitlebens als Gesamtkunstwerk verstanden, ähnlich wie Beuys,
„I’m using myself as a canvas and trying to paint the truth of our time on it.“
(Quelle: Wikipedia)
In diesem Sinne ist auch klar, dass er seinen Tod, sein Sterben ebenso künstlerisch inszeniert hat. Interessant ist, dass Bowie in seinem künstlerischen Vermächtnis, als das man das Album „Blackstar“ mit Fug und Recht bezeichnen darf, auf „Station to Station“ referiert und nicht auf seine erfolgreichere US-Zeit mit Ziggy Stardust oder Starman. Offensichtlich war diese Verbindung im Gesamtkontext des finalen Kunstwerks passender – der Tod ist nur eine weitere Station im künstlerischen Dasein.
Die Kunst der Freiheit
Was ist die Quintessenz aus den beiden Werken? Ich denke, es kann die Freiheit sein. Bowie ist am Ende frei, er hat sich immer die Freiheit genommen zu gestalten, wie er es für gut hielt, nicht was andere erwarteten. Auch Beuys adressiert die Freiheit des Gestaltens. Er beobachtete Metaebenen, in denen die eigene Energie spürbar wird.
Es ist die Freiheit, die einen überkommt, wenn man loslassen kann und in sich hört. Wenn man sich nicht zwischen zwei Polen aufreibt, sondern sich sicher zwischen beiden (und weiteren anderen) bewegt und Positionen phasenweise handelnd einnimmt („in eine Form kommt“ nach Lesart Beuys) in der Gewissheit, sie wieder verlassen zu können. Wer dieses Loslassen schon einmal körperlich gespürt hat, weiss, dass es sich anfühlt, als ob man größer und weiter wird. David Bowie hat in einem Interview in Bezug auf seine Arbeit als Künstler ein schönes Bild dafür geschaffen: Es ist als ob man ins Wasser hineingeht und die Füße immer weniger den Boden berühren. Wenn man den Boden dann kaum noch spürt und zweifelt, ob man weitergehen kann und über den Zweifel hinweggeht (bzw. dann anfängt, aktiv zu schwimmen oder sich vom Wasser tragen läßt), dann kann etwas Aufregendes entstehen. In diesem Sinne: Probiere, ob Du den (mutmaßlich) sicheren Boden verlassen kannst (wenigstens ab und zu) und beobachte, was passiert.
Viele Grüße
Daniela
Zum Reinhören:
https://www.youtube.com/watch?v=E_v5f9TfJrA
http://www.ardmediathek.de/tv/punkt-Einfach-Wissen/Beuys-Zeige-deine-Wunde/ARD-alpha/Video?bcastId=23961358&documentId=25302114
https://imgur.com/X7mLrYj
Bildquellennachweis: Daniela Röcker