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„Wir sind ständig auf der Suche nach dem Einhorn“, sagte der Geschäftsführer eines hiesigen großen Unternehmens beim Open Innovation Kongress letzte Woche in Stuttgart und blickte mit verzücktem Augenaufschlag ins Publikum. Ein wenig musste ich schmunzeln, weil einmal mehr ein Großunternehmen das, was Silicon Valley hervorbringt, sehr romantisiert. Das Einhorn, bzw. unicorn, im Wirtschaftskontext ist in dieser Logik ein Startup, das eine Bewertung von über 1 Millarde U$ bei Börsengang oder Exit hat. In der konventionellen betriebswirtswirtschaftlichen Sichtweise heißt das: minimaler Material- und Personalaufwand – größtmöglicher Ertrag.


Ich halte es für legitim, als Unternehmen diesen Wunsch zu haben. Schließlich lebt die Institution „Unternehmen“ in einer Wirtschaftslogik, in der es als erfolgreich gilt, so viel Gewinn wie möglich zu erwirtschaften. Hoher Gewinn sorgt in dieser Logik für mehr Wohlstand aller Mitglieder der Gemeinschaft. Dass diese Logik heute vielleicht nicht mehr so wirklich zeitgemäß ist, steht auf einem anderen Blatt und wird meiner bescheidenen Meinung nach – trotz diverser alternativer Betriebswirtschaftsansätze – viel zu wenig thematisiert.

Einhörner? Nein, danke.

Aber warum Einhörner? Ich persönlich hatte bis vor einiger Zeit zu Einhörnern ein eher gespaltenes Verhältnis. In meine Teenagerzeit fiel ein schmalziges Zeichentrick-Märchen namens „The last Unicorn“ von 1982 mit dem gleichnamigen, für meinen Musikgeschmack gruseligen, Soundtrack, der sogar in meiner damaligen Lieblings-Musiksendung „Formel Eins“ gespielt wurde. Igitt.

Auch in den 1980er Jahren spielten kleine Schwestern meiner Freundinnen mit „Rainbow Ponys“ – Plastikfiguren, die die Firma Hasbro als Serie „My little Pony“ herstellte. 1983 kamen Einhörner dazu. Die dazugehörige TV-Werbung war irgendwie omnipräsent und für meinen Geschmack furchtbar kitschig, glitzerig, bunt und süßlich und passte so gar nicht zu meiner eigenen Teenager-Anti-Haltung. Zum Glück habe ich keine kleine Schwester, sondern einen kleinen Bruder, der nie mit regenbogenfarbigen, kulleraugigen Plastikpferden spielte.

Das mythische Einhorn

Quellen zum Thema Einhorn sind leider viel zu umfangreich für einen Blogbeitrag, daher erwähne ich hier nur rudimentär aus der Historie: Es ist unklar, ob das Einhorn wirklich nur ein Fabelwesen ist oder real existierte. Es erscheint als Abbildung auf Speckstein bereits in der bronzezeitlichen Indus-Kultur in Indien. Später wird es in Sanskrit-Schriften und in der Antike bei Aristoteles und Plinius (z.B. Aristoteles „Historia animalium“) genannt. Das Einhorn steht für das Gute und seinem Horn werden heilende Kräfte zugeschrieben. Im Alten Testament taucht das Einhorn als reales Tier, als Rêm, auf, das als starkes und gefährliches Tier beschrieben wird. Das Christentum mystifiziert das Einhorn und assoziiert es mit der Jungfrau Maria.

Als reale Tiervorstellungen des Einhorns fungieren Nashörner, Auerochsen, Antilopen und – insbesondere als Analogie für das Horn – der Zahn des Narwals. In der jüngeren Vergangenheit und mit zunehmender Präsenz in den Medien wandeln sich die Aspekte „heilend“ und „gut“ zu „Magie, Liebe, Freundschaft“. Ergänzend vermischt sich das weiße Einhorn mit dem Regenbogen-Mythos, der seit jeher mit hoher Symbolik aufgeladen ist: in Verbindung mit Schöpfungsgeschichten (z.B. Regenbogenschlange der Aborigines), als Märchen (z.B. der Schatz am Ende des Regenbogens der irischen Leprechauns), als Mittler (Brücke zwischen Dies- und Jenseits, z.B. germanische Mythologie Midgard/Asgard) bis hin zur Friedens- und Vielfaltsymbolik (20./21. Jh.).

Die Hyper-Kommerzialisierung der Einhörner

Mit der Neuauflage von „My little pony“ in 2010 und dem aus Marketingsicht cleveren Slogan „Friendship is magic“ bildete sich eine Fangemeinde. Die US-Amerikanerin Lauren Faust war vielleicht ein Fangirl, denn sie ersann 2010 die amerikanisch-kanadische Animationsserie „My little pony. Friendship is magic.“, die ihrer Aussage nach von den Hasbro-Spielzeugpferden inspiriert war, und aus dem sich die Kommerzialisierung in weitere Merchandising-Produkte ausbreitete. Die Serie wurde ein Internetphänomen aus dem eine Fanszene erwuchs, die im anglo-amerikanischen Raum Conventions und Cosplays initiierte. Teile der männlichen Fans nennen sich „Bronies“ – ein Kunstwort aus „Brother“ und „Pony“. In Deutschland fand 2012 die erste Fanconvention dazu statt.

Die kommerzielle Einhorn-Hochphase lag in Deutschland mutmaßlich zwischen 2016 und 2017. Die Firma Ritter Sport z.B. lancierte am 1. November 2016 eine Einhorn-Schokolade, die nur im Internet gekauft werden konnte mit dem Slogan „Quadratisch. Magisch. Gut.“ Innerhalb nur eines Tages war die Sonder-Edition von 150.000 Stück verkauft. Andere Firmen zogen mit weiteren Einhorn-Produkten nach.

Jo, kann man machen, muss aber nicht.

Einhörner und Potenz

Wenn ich heute „Einhorn“ in eine Suchmaschine, vielleicht spaßeshalber mal Ecosia statt Google, eingebe, ist der erste Eintrag der von Einhorn-Kondome, einem Unternehmen, das nachhaltige Kondome produziert und selbstorganisiert nach Holacracy-Prinzipien arbeitet.

Warum Kondome Einhorn heißen, dürfte auf der Hand liegen, bzw. zwischen den Beinen hängen, denn das Horn des Einhorns taugt allemal als Phallussymbol. Als reales Vorbild des Einhorns wird u.a. das indische Panzernashorn genannt (lt. Ursula Göhlich vom Naturhistorischen Museum Wien, Quelle: Artikel „Botschafter vom Ende des Regenbogens“, faz.net, 13.06.2017). Daraus ließe sich eine weitere sexuelle Konnotation ableiten, denn pulverisiertes Horn von Nashörnern gilt in Asien als Potenzmittel. Da sich ein Potenzversprechen komischerweise immer in Geld umwandeln lässt, ist dieses Versprechen für das Töten der geschützten Tiere verantwortlich und trägt zu deren Ausrottung bei.

Wie kommt das Einhorn ins Silicon Valley?

Wie und warum das Einhorn ins Silicon Valley galoppiert ist, konnte ich leider nicht herausfinden, aber vielleicht fanden ein paar Startup-Jungs (84,9 % der Startup-Gründer in Deutschland sind männlich; Quelle: Statista, Deutscher Startup Monitor, 2018) die Serie süß oder waren selbst Bronies? Vielleicht wussten sie aber auch, dass Einhörner seit dem 20. Jh. Regenbögen kacken und fanden das cool und anti-established? Jungs – auch die, die schon erwachsen sind – erfreuen sich meiner Erfahrung nach ja durchaus an ihren Exkrementen. Zumindest reden sie, im Gegensatz zu den mir bekannten Frauen, darüber. Vielleicht fanden die Startups es aber auch einfach klasse, dass Einhörner für bunte Vielfalt stehen. Sicher scheint mir aber zu sein, dass wenn etwas mythisch aufgeladen ist und sowohl Geld als auch Potenz verspricht, dies für ein kapitalistisches System ein sehr hoher Attraktor zur umfassenden Verwertung ist.

Ideenmanagement für Einhörner

Was macht jetzt ein Unternehmen, das in ein mutmaßliches Unicorn investiert? Warum es investiert, ist klar – siehe oben maximaler Ertrag bei minimalem Aufwand. Ist evolutionstechnisch ja auch gar nicht blöd gedacht, so wenig Energie wie möglich zu verbrauchen, um die eigenen Ressourcen zu schonen, oder? Es scheint mir auch nicht ganz doof zu sein, wenn Unternehmen erkennen, dass die eigenen Ideen vielleicht nicht so zukunftstauglich sind und man sich daher Inspiration und Innovation von außen erhofft. Soweit so gut. Da haben Menschen erkannt, dass ihr eigenes Wissen nicht ausreicht und es Impulse von außen braucht. Warum glauben aber diese Menschen gleichzeitig, dass sie beurteilen könnten, ob der Impuls ihrem Unternehmen hilft, wenn ihnen doch das Wissen von außerhalb des Tellerrandes fehlt?

Unternehmen, die nach Impulsen verlangen, machen Folgendes: die neuen Ideen werden „gemanaged“ oder „gechallenged“. Mir scheint, dass hier Ideen mit Vorschlägen gleichgesetzt werden. Vorschläge sind in der wirtschaftlichen Logik Ideen auf Basis bestehender Produkte, die verbessert werden könnten. Ideen sind jedoch etwas Eigenständiges und losgelöst vom bestehenden Kontext. Könnte es sein, dass in den Startup-Unicorn-Mythos auch die Annahme mit hineinspielt, dass von der eigenen Stamm-Belegschaft keine Innovation zu erwarten ist? Der ganz persönliche Wunsch in der eigenen Karriere „das ganz große Ding“ geschafft zu haben?

Ist es vielleicht auch so, dass man sich von Startups – egal ob zugekauft oder intern – eine Verjüngung erhofft, weil „jung“ mit „beweglich und potent“ gleichgesetzt wird? Und man im Gegenzug der Annahme erliegt, dass etabliert und erfahren nicht für genug Potenz sorgt? Nur mal so metaphorisch dahingedacht… Laut Trendforscher und Soziologe Sacha Szabo (Interview bei Noizz.de u. SZ-online) erfährt das Einhorn übrigens in unruhigen Zeiten einen Hype, weil es einen Gegenentwurf zur Realität darstellt. D.h. in diesen Zeiten neigen Menschen zum Eskapismus in Phantasie- und Traumwelten, in denen alles gut und heil ist.

… und dann kam Agnes.

Ich liebe Zeichentrickfilme und einer meiner Lieblingsfilme ist „Despicable me“ – auf Deutsch „Ich – einfach unverbesserlich“. Sicher klingelt es jetzt bei der einen oder dem anderen, denn mit diesem Film wurden die Minions, diese kleinen lebendig gewordenen Überraschungseier-Kapseln, berühmt. Die liebste Figur für mich dort sind aber nicht die Minions, obwohl sie unbestritten grandios sind, sondern es ist Agnes, die jüngste der drei Mädels, die Gru aus dem Waisenhaus geholt hat. Seit Agnes habe ich Frieden mit Einhörnern geschlossen.

Agnes liebt flauschige Einhörner und hat ein solches Einhorn als Kuscheltier. Nachdem ihre Schwester dieses unbeabsichtigt zerstört und die Minions Agnes als Zwischenlösung eine zum Einhorn umgebastelte Klobürste schenken, bekommt Agnes bei einem Jahrmarkt-Besuch ein flauschiges Rieseneinhorn. Als Gru, ihr Adoptiv-Vater, arbeitslos wird, verkauft Agnes dieses geliebte flauschige Einhorn bei einem Hausflohmarkt, um Geld in die Familienkasse zu bringen. Da sie überzeugt davon ist, dass es echte Einhörner gibt, wünscht sie sich ein lebendiges Einhorn und – wird am Ende, entgegen aller Zweifel ihres Umfeldes, fündig: Es ist eine kleine Ziege, der ein Horn fehlt.

Fazit

Um ein Einhorn zu finden, braucht es aus der Sicht meines Synapsennetzwerks weder Regenbogen noch Jugend noch Potenz. Es ist lediglich eine Vorstellung von einem Einhorn hilfreich, die jedoch keinem Trend folgt, dafür aber Unperfektheit beinhaltet. Vielleicht wäre es für nach Innovationen lechzende Unternehmen gesünder, in Einhörner nicht zu viel hinein zu mystifizieren. Einhörner, deren Plastik in der Sonne glitzert, finden sich später eh als nicht recyclebarer Abfall in den Weltmeeren wieder, was wiederum ungesund für alle Erdbewohner ist. Vielleicht ist es sinnvoller sich auf das einzulassen, das nicht nach durchgestyltem, glitzerndem Einhorn aussieht und vielleicht sogar im näheren Umfeld liegt. Nur so ein Gedanke…

Übrigens: dem Mythos zufolge werden Einhörner nie mit Männern assoziiert, sondern mit Frauen.

 

Bis neulich,
Daniela

 

zur Vertiefung: https://books.google.de/books/about/Das_Einhorn_vom_geschichtlichen_und_natu.html?id=L900AQAAIAAJ&redir_esc=y

zum Gruseln: https://www.youtube.com/watch?v=LXHzZBr_zuU

zum Mitfreuen: https://www.youtube.com/watch?v=3BLSTaaFP2A

Bildquelle: Kultur-Komplizen