Eine LinkedIn-Diskussion vor wenigen Tagen, hat mich daran erinnert, dass ich längst etwas zum Thema Führung/Leadership und Kunst schreiben wollte. Worum ging es dabei? Ausgangspunkt war ein Beitrag mit dem Titel „Leadership is the art of meaning creation“ von LukeMcBain. Conny Dethloff hatte den Beitrag geteilt und verschiedene Aspekte angesprochen, die er mit Führung und Kunst verknüpft. (Danke, Andreas, nochmal, dass Du mich auf die Diskussion aufmerksam gemacht hast.)
Führung und Kunst?
In letzter Zeit taucht immer mal wieder die These, Meinung, Behauptung auf, dass Führung und Kunst etwas miteinander zu tun haben oder dass Führungskräfte gar Künstler sind. So auch im Originalbeitrag. Was für einige absurd scheint, nämlich dass Wirtschaft und Kunst eine Verbindung haben, ist für andere wiederum reizvoll. Natürlich, der Künstlerstatus ist soziokulturell in unserer Gesellschaft und insbesondere im sogenannten Bildungsbürgertum hoch angesehen. Was läge da näher, sich mit dieser Feder schmücken zu wollen? Der Wunsch ist nachvollziehbar und verständlich. Und wenn wir im Kontext der Transformation von Arbeitswelten den Begriff „Gestaltung“ entdecken, dann könnte das etwas mit Kunst zu tun haben. Wie immer ist jedoch ein Blick unter die Oberfläche notwendig, um ins Verstehen zu kommen.
Unterschiedliche Konzepte
Bleiben wir zunächst bei den beiden Konzepten Führung/Leadership und Kunst. Ich verstehe die Intention hinter dem Artikel von LukeMcBain, nämlich dass reine Rationalität und Effizienzdenken zu wenig sind und dass es andere Mittel braucht. Ein klares Ja, das unterstütze ich vollkommen. Dennoch sehe ich einige Fallstricke im Artikel: „Leadership ist auf die Zukunft gerichtet“, heißt es im Artikel. Ja, das sollte so sein, wenn Leadership den Fortbestand eines Unternehmens unterstützen soll.
Kunst dagegen ist nicht ausschließlich auf die Zukunft gerichtet. Kunst ist ein Medium, ein Mittel, eine Ausdrucksmöglichkeit, die auf Etwas in der Vergangenheit, der Gegenwart und/oder Mögliches in der Zukunft reagiert. Kunst ist per se frei, Leadership nicht. Kunst muss weder Zweck noch Sinn haben, Leadership schon. Bildende Kunst ist (auch, nicht immer) mit dem Herstellen, der Produktion eines Kunstwerks verbunden. Was wäre ein Kunstwerk im Kontext Leadership?
Kunst braucht einen Rahmen – manchmal.
Kunst wird mitunter nur als Kunst erkannt und anerkannt, wenn sie im klassischen Kultur-Kontext (Museen, Theater, Galerien, Konzerte, Ausstellungen, etc.) stattfindet. Man erinnere sich vielleicht an das Experiment des Star-Geigers Joshua Bell, der 2007 in Straßenkleidung und mit Baseball-Cap in der Washingtoner U-Bahn spielte. Das Experiment wurde mit einer versteckten Kamera aufgezeichnet und ging viral durch Social Media. Im Ergebnis blieben von rund 1000 vorbeigehenden Personen, nur sieben stehen, um ihm zuzuhören, und nur eine Frau erkannte ihn.
DER Künstler
Ein weiterer Punkt ist das Bild „Künstler*in“, mit dem wir sehr vorsichtig umgehen sollten. Die Sichtweise vom selbstbestimmten, erhellten „Künstlergenie“ ist eine relativ neue, die u.a. in der Zeit der Romantik befeuert wurde und sich bis heute hält. Kulturgeschichtlich geht es in dieser Zeit um Auf- und Umbruch, vielleicht würden wir heute von Disruption reden. Damals ging es um die Abkehr von der Klassik mit ihrem Anspruch nach Ordnung, Klarheit, Konformität und Harmonie hin zur Sehnsucht, zur Leidenschaft, zur Individualität, zum Unbewussten, zum Phantastischen – mithin zur Freiheit in jeglicher Form. Ein Schlüsselzitat Friedrich von Hardenbergs (Novalis) ist prägend für diese Zeit:
„Die Welt muss romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. Romantisieren ist nichts als eine qualitative Potenzierung. Das niedere Selbst wird mit einem besseren Selbst in dieser Operation identifiziert….“ (Novalis, gekürzt)
Genie – Begabung – Talent
Die Definition des Begriffs „Genie“ ändert sich je nach geschichtlicher Epoche. Nach den Gelehrtenstreits in Frankreich (siehe: Querelle des Anciens et des Modernes, 17./18. Jh. ) expandiert der Begriff, der zuvor eher den Eliten vorbehalten war. Entgegen früherer Künstler, deren ästhetisches Prinzip die – möglichst perfekte – Nachahmung der Natur war, ist das „Genie“ nun der aus sich selbst heraus schaffende Künstler (natürlich nur die männliche Form; durch Abwertung, Ausgrenzung, Reduzierung und Negierung von Frauen war der Begriff ausschließlich Männern vorbehalten), der durch seine individuelle Begabung/Talent Kunstwerke erschafft. Der Begriff des „Genie“ erfährt durch Wilhelm von Humboldt eine Erweiterung in den Bereich Bildung. (In der pdf unten beschreibt Christoph Hubig den Wandel des Begriffs „Genie“ durch die Epochen)
Conny Dethloff schrieb im Kommentar zum erwähnten Artikel, dass es in der Führung einen erlernbaren Anteil (Handwerk) und einen nicht erlernbaren Anteil gibt, den er mit Talent beschreibt. Was genau heißt Talent in diesem Zusammenhang und wer definiert das? Ist eine Führungskraft talentiert, weil über einen Zeitraum hinweg Menschen zufrieden mit dem Führungshandeln waren? Ist also mit Talent eine Art von Beziehungsfähigkeit gemeint? Ist sie talentiert, wenn das geführte Team Projekte wirtschaftlich erfolgreich abwickelt? Hängt das Talent eher von kognitiver Intelligenz ab? Reden wir von Geschicklichkeit, von Weit- oder Umsichtigkeit?
Für mich sind die Begriffe „Begabung“ und „Talent“ schwer zu fassen, weil sehr kontextabhängig. Nicht ich selbst definiere, was Talent ist, sondern andere machen das für mich anhand von Rahmenbedingungen, die ich nicht gesetzt habe. Hinzu kommt der Zeitfaktor – die Relativitätstheorie Einsteins wäre 50 Jahre vor ihrer Publizierung vermutlich nicht gefeiert worden.
Der Künstler als Schöpfer?!
Im Originalartikel von Luke McBain scheint die Sichtweise des „Genies“ durch, denn er schreibt „Jeder Künstler weiß, dass er oder sie aus dem Nichts, aus dem Unbekannten, etwas schöpfen muss…“ Das Individuum in dieser Lesart „erschafft“ etwas aus dem Nichts. Ernsthaft? Nein. Diese Sichtweise gilt heute auch wissenschaftlich als überholt. Künstler sind kontextabhängig und arbeiten mit dem, was da ist und setzen es auf eine andere Art und Weise zusammen.
Die sogenannte „Eingebung“ kommt nicht aus dem Nichts, sondern hat eine Geschichte, die aus subjektiven Erfahrungen, Erlebnissen und Wahrnehmungen herrührt. Das „Geniebild“ führt je nach gesellschaftlicher Verfasstheit dazu, Künstler (ich nutze hier wiederum ganz bewusst nur die männliche Schreibweise) zu erhöhen und zu mystifizieren (übrigens wie in jedem anderen Bereich auch, siehe Thema „Helden/Zuschreibungen“).
Von der Künstlerseite wird dieses Bild andererseits auch gefördert, indem z.B. Exzentrik und Narzissmus zelebriert werden. So entsteht der Eindruck, ein Künstler müsse genauso sein – außerhalb der Norm. Leadership der Zukunft braucht aber genau keine „erhöhten Menschen“.
Die Freiheit der Kunst
Schauen wir auf den Begriff der Freiheit in der Kunst, stellt sich ebenfalls ein fundamentaler Unterschied zu Führung dar. Kunst ist nur wirklich frei, wenn sie nicht in eine wie auch immer geartete Tauschbeziehung mündet. Freie Künstler entziehen sich in ihrem Selbstverständnis daher dem Markt und machen lediglich Angebote in Form ihrer Kunstwerke. Daher ist die Zweckfreiheit der Kunst auch keine Option, sondern Bedingung für den Freiheitsgedanken.
Der Künstler/die Künstlerin muss in der Lage sein, selbstbestimmt zu entscheiden, ob seine/ihre Kunst für andere einen Zweck, ein Ziel, einen Sinn haben soll oder nicht. Kunst ist nichts und niemandem Rechenschaft schuldig. Leadership kann diese Freiheit nicht gewähren.
Kunst und Gesellschaft
Jetzt ist es seit jeher so, dass Künstler auch Menschen sind, die irgendwie überleben müssen. Merkwürdigerweise ist es in unserer Gesellschaft einerseits so, dass Kunst einen unglaublich hohen Stellenwert hat – insbesondere beim Bildungsbürgertum – , andererseits die, die diese Kunst herstellen, oft in prekären Verhältnissen leben und sowohl mit künstlerischen Auftragsarbeiten als auch mit fachfremden Tätigkeiten ihren Lebensunterhalt verdienen. Wiederum andere sind sogenannte Intermediäre, die an Schnittstellen arbeiten, wie z.B. Wirtschaft/Kunst, Pädagogik/Kunst, Wissenschaft/Kunst. Und noch andere sind Stars auf einem Kunstmarkt, den eine absurde Kapitalismuslogik treibt.
Künstler, die auf großzügige externe finanzielle Unterstützung zurückgreifen können oder/und gut im Akquirieren von Geldern sind, sind auch in der Lage, mehr und teurere Materialien für ihre Kunstwerke zu verwenden und/oder Hilfskräfte zu beschäftigen. Leonardo da Vinci z.B., war durch großzügige Förderung in der Lage, das teure Pigment Lapislazuli für seine Werke zu verwenden, das wiederum beim Betrachter eine besondere Wahrnehmung auslöst. Was würde dieser Aspekt übertragen auf Leadership bedeuten? Eine hoch bezahlte Führung schafft ein besonderes (besseres?) Ergebnis und eine weniger gut bezahlte Führungskraft nicht? Ist es ein Aspekt von Talent, wenn ich mehr Geld generieren kann als andere?
Leben und Arbeit
Allen Künstlern ist gemein, dass Leben und Arbeit ineinanderfließen. Auch aus diesem Grund führen wir Diskussionen, ob Kunstwerk und Künstler getrennt werden können, wie z.B. erst kürzlich die Debatte zur Verleihung des Literaturnobelpreises an Peter Handke. Bei Leadership kann tatsächlich auch die Person und ihre Arbeit verknüpft sein, wie z.B. bei Steve Jobs, der untrennbar mit Apple verbunden ist. Allerdings ist es eher der wirtschaftliche Erfolg, der hier die Verbindung schafft. Als Führungskraft steht Jobs wohl eher für Command-and-Control – ebenfalls keine positive Eigenschaft für künftige Leader.
„Jeder Mensch ein Künstler“
Joseph Beuys war einer der Künstler, der konsequent die Verbindung von Kunstwerk und Künstler, in allem seinem Schaffen sichtbar und erlebbar machte und sie explizit im „erweiterten Kunstbegriff“ festschrieb. Beuys galt Vielen in seiner Zeit als Störer und Scharlatan, weil seine Kunst mit Konventionen und Traditionen brach. Er war ob seines Auftretens Lichtgestalt, also eine „erhöhte“ Person, die genau aufgrund dieser „Sockelstellung“ in Fachkreisen bewundert wurde.
Wer heute eines seiner Kunstwerke in Museen sieht, sieht nur „Reste“ (eine treffende Formulierung seines Meisterschülers Johannes Stüttgen) des eigentlichen Kunstwerks, denn er schuf lebendige Installationen, die mit seinem unmittelbaren Handeln verbunden und damit zeitbegrenzt waren. Natürlich können sie dennoch auch heute im Museum eine gewisse Wirkung auf Rezipienten haben.
Sein bekanntestes Zitat „Jeder Mensch ein Künstler“ wurde und wird vielfach inflationär und reduziert verwendet. Dieses Zitat bezieht sich nicht auf einen erhöhten Persönlichkeitsstatus, sondern auf das Wirken einer Person. Beuys spricht hier ganz grundlegende Prinzipien von Kreativität an: die Fähigkeit der Beobachtung, der Reflexion, der Erkenntnis. Aus der Erkenntnis oder dem Verstehen Schlüsse zu ziehen. Aus dieser Konklusion bewusst im Sinne einer gesunden Gemeinschaft zu handeln. Er spricht nicht von Talent oder Begabung. Die hier genannten Prinzipien beziehen sich auf alle Menschen und sind nicht auf Führung beschränkt.
Ein Versöhnungsversuch für Methoden
Wenn von Führung die Rede ist, wird oft abfällig über bloße Anwendung von Methoden gesprochen. Wer führt, braucht Haltung, ist das gängige Narrativ. Wenn wir wirklich Führung in die Nähe von Kunst bringen wollen, weil gute Führung tatsächlich Anteile von Kunst im Sinne von „Gestaltung“ enthalten kann, dann sollten wir uns mit der Methodenanwendung versöhnen.
Denn worüber wir uns ärgern, ist nicht, dass Methoden an sich angewendet werden. Wir ärgern uns über ihre oberflächliche oder schlechte Anwendung. Wer weiß, wie die Struktur einer Methode angelegt ist und warum, welche Prinzipien einer Methode zugrunde liegen und es dann versteht, diese Methoden – vielleicht sogar virtuos – aufeinander abzustimmen und kontextabhängig anzuwenden, der ist dem Kunstbegriff der Antike recht nahe.
Kunst war Technik
Kunst, Handwerk und Wissenschaft waren in der griechischen Antike nicht getrennt, sondern mit dem Begriff „téchne“ zusammengefasst. Später unterschieden die Griechen die „téchne“ in „artes mechanicae“ und „artes liberales“, schlichtweg aus sozialen Gründen, weil sie die körperliche Arbeit als minderwertiger ansahen als geistige Arbeit.
Es ging nicht um irgendeine individuelle Eingebung, sondern um solides und handwerkliches Können im Einklang von Körper und Geist. Geübte Handgriffe, sorgfältig und präzise ausgeführte Techniken nach festen Regeln und messbarer Ordnung machten ein Kunstwerk zum Kunstwerk. Noch heute kennen wir den Begriff der Handwerkskunst. Das Signieren von Kunstwerken kommt erst im Spätmittelalter und der Neuzeit (wieder) im Zuge stärkerer Individualisierung und des Persönlichkeitsbewusstseins auf. Unzählige Künstler haben nicht signiert, weil es nicht wichtig war, dass ihre Person Urheber war.
Die – auch räumliche – Trennung von Kunst und Handwerk ergibt sich erstmals im Mittelalter in Frankreich, wo Maler, Bildhauer, Graveure eigene Gemeinschaften in Abgrenzung zu anderen Handwerken gründen. Im Kontext von Digitalisierung darf man sich die spannende Frage stellen, ob Technik und Kunst wieder stärker zusammenfließen, denn digitale Kunstwerke sind längst anerkannt.
Fazit
Grundsätzlich bin ich dagegen, Leadership mit Kunst gleichzusetzen oder die Formulierung „Leadership als Kunst“ isoliert zu verwenden. Diese Aneignung scheint mir gerade im Hinblick auf den Kulturbetrieb allgemein als auch gegenüber Künstlern, die auf Grundsicherung und auf Unterstützung der Künstlersozialkasse angewiesen sind, respektlos. Mein besonderer Widerwille gegen diese Aneignung ist auch dem Film „System Error“ geschuldet. Dort bezeichnet sich ein Hedgefonds-Makler als „Künstler des Kapitals“. Will ich das? Nein, niemals.
Sobald uns die Hintergründe und vielfältigen Facetten von Kunst jedoch bewusst sind, dann öffnet die Verbindung von Leadership/Führung und Kunst jenseits von Mäzenatentum einen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Diskurs und Handlungsspielraum, der hilfreich werden kann. Vielleicht auch disruptiv.
Bis neulich,
Daniela
Wollen wir das Thema auf der #LATC2020 / #NKNA20 vertiefen? Denn dort wird das Thema Kunst definitiv nicht nur einen Randplatz haben. Die #NKNA20 ist transsektoral angelegt, d.h. hier finden sich die Perspektiven aus Kunst, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Details und Tickets findet ihr hier: https://www.kultur-komplizen.de/nkna20/
Zum Weiterlesen:
pdf zum Wandel der Definition des Begriffs „Genie“
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