Zwei Dinge erinnerten mich letzte Woche an meine Installation „Radfahren“ bei der #NKNA18 . Einmal sind wir mittendrin die nächste „Neue Konzepte für neue Arbeit“, die #NKNA20, zu organisieren. Und ich war in einen Austausch über „Haben und Sein“ bei Facebook involviert. Was mich wieder einmal zu der Frage brachte: Was ist eigentlich dieses „Sein“ ist, dieses innerste Ich?
Was ist dieses Ich?
Seit einem tiefsinnigen Gespräch mit Johannes Stüttgen – kein Geringerer als der Meisterschüler des von den Kultur-Komplizen hoch geschätzten Joseph Beuys – habe ich für mich eine ziemliche klare Vorstellung, was dieses „Ich“ ist. Mein Bild lässt sich sehr gut anhand einer keltischen Triskele beschreiben. Denn die drei Arme dieser Triskele können als die Symbolisierung der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft interpretiert werden, die sich in einem Punkt treffen. Und genau dieser Punkt definiert sich für mich als das Ich. Das heißt ich habe eine Vergangenheit, ich bin in einer Gegenwart und ich denke eine Zukunft. Und alle diese drei Dinge determinieren von Sekunde zu Sekunde mein Ich. Ja, dieses Ich ist in ständiger Bewegung, mal beeinflusst mich das Geschehen in der Gegenwart mehr, mal die Erfahrungen aus der Vergangenheit und mal die Vorstellungen an die Zukunft. Diese drei Ebenen gilt es ständig auszubalancieren, von Augenblick zu Augenblick immer wieder neu. Wichtig dabei ist, mich weder als Opfer meiner Vergangenheit, noch als Sklave meiner Zukunft, noch als Gefangener meiner Gegenwart zu begreifen.
Balancieren ist kein Stillstand
Balance heißt dabei aber eben nicht auf Dauer ein absolutes Gleichgewicht zu halten, denn das würde Stillstand bedeuten und diesen Stillstand gibt es nicht. Wir müssen uns bewegen, um zu (über)leben. Und die Welt um uns herum dreht sich metaphorisch und im wahrsten Sinne des Wortes ständig weiter. Auch wenn das Viele nicht wahrhaben wollen und lieber in ihrer Bequemlichkeit verharren möchten, Veränderung ist Normalität. Und diese Veränderung bedingt es, dass wir uns bewegen. Für diese Bewegungen haben wir einen Körper, der uns diese physische und psychische Bewegung ermöglicht. Mit diesem steuern wir mit unseren Erfahrungen und Prägungen aus der Vergangenheit, im Rahmen der aktuellen inneren und äußeren Bedingungen und den Vorstellungen davon, was wir damit erreichen wollen.
Die Suche nach dem „Ich“ ist also eine ständige Auseinandersetzung mit den „Monstern“ und positiven Erfahrungen aus der Vergangenheit, die mich in meiner Fortbewegung blockieren und/oder mir weiterhelfen. Meine Identität entwickelt sich aus diesen Vergangenheitsaspekten in Korrespondenz mit dem, was ich in meiner realen Gegenwart zur Verfügung habe und wo ich hin will, um daraus immer wieder das zu neu zu formulieren, was ich wirklich, wirklich will. Dies ist kein linearer Weg wie uns manches „Entwicklungsmodell“ glauben lassen will, sondern verläuft dynamisch in alle Richtungen.
Fehlt diese Auseinandersetzung und Reflexion, passiert das, was ich in meiner Installation auf der #NKNA18 zum Ausdruck gebracht habe. Ich habe keine eigene Identität, sondern ich billige es, mich von externen Einflüssen in eine Identifikation pressen zu lassen:
Die Installation
Die Installation besteht aus einem, auf eine Palette montierten Fahrrad. Das Vorderrad ist aus der Gabel gerissen und liegt auf dem Boden. Auf dem Rad sitzt eine tief gebeugte, gesichtslose Stoffpuppe. Die Füße stehen auf den Pedalen.
Zitat von Erich Fromm
Von der Decke herab, über dem Fahrrad, hängt ein Plakat mit einem Zitat von Erich Fromm; der Hintergrund zeigt Portraits von Religionsführern, Populisten, Managern und Nationalisten:
„Die Religion und der Nationalismus oder auch irgendeine Sitte oder ein noch so absurder und menschenunwürdiger Glaube sind – wenn sie den einzelnen nur mit anderen verbinden – eine Zuflucht vor dem, was der Mensch am meisten fürchtet: die Isolation.“
Zitat von Arno Gruen
Unter dem Rad liegt ein Plakat mit einem Zitat von Arno Gruen, im Hintergrund sind Menschen verschiedener Herkunft und Alters zu sehen:
„Der rechte Extremismus und das linke Rebellieren, die Gewalt in ihren verstecktesten Formen und der Terror gegen andere und sich selbst: Das sind die Endpunkte der Zerstörungsspirale, die sich scheinbar notwendig dreht ohne angehalten werden zu können. Täter und Opfer leben in einer gefährlichen Symbiose und sind ihr ganzes Leben auf der Suche nacheinander.“
Die Metapher des Radfahrers in Organisationen
Als ich die Idee der Installation vorstellte, stellte ich überrascht fest, dass nicht alle die Metapher des „Radfahrers“ in einer Organisation kannten. Für mich ist dieses Bild seit der Zeit meiner Ferienjobs in einer Papierfabrik präsent. Damals ätzten die Arbeiter in der Kantine über Schichtführer, die nach oben hin buckelten, indem sie sich der Geschäftsleitung anbiederten und zum Ausgleich ihre „Untergebenen“ schikanierten, indem sie nach unten traten – und nannten diese „Radfahrer“.
Der autoritäre Charakter
Dieses Bild – nach oben buckeln, nach unten treten – setzte sich in meinen Gedanken fest, als ich bei Erich Fromm über sein Konzept des autoritären Charakters las. Denn diese Dichotomie von Unterwerfung unter die Mächte und Beherrschung der unter einem Stehenden, ist für die Einstellung des autoritären Charakters charakteristisch.
Der autoritäre Charakter ist an Macht, festen Strukturen und Gehorsam orientiert. Daher kann er mit Freiheit und Unsicherheit nur schlecht umgehen. Fromm sagt dazu: „Er bewundert Autorität und strebt danach sich ihr zu unterwerfen, gleichzeitig aber will er selbst Autorität sein und andere sich gefügig machen.“ Zusammenhänge zu Populismus und Nationalismus sind kein Zufall – das oben erwähnte Buch und das Zitat stammen aus dem Jahr 1941 und sind heute vielleicht aktueller als je zuvor.
Weitere Erklärungen, wie solche Charaktere entstehen, liefern die Texte des Psychologen und Psychoanalytikers Arno Gruen. Ein Zitat beschreibt seine Ideen eindrücklich: „Vielleicht sollten wir den Unterschied zwischen Identität und Identifikation deutlich machen, indem wir erkennen, dass Identifikation nicht die Basis für eine eigene Identität bildet. Dass Identifikation und Identität einen Widerspruch in sich bergen, weil Identifikation eben nicht zur Entwicklung einer autonomen, originären Identität führt“.
„Radfahren“ zeigt diesen „autoritären Charakter“ im aktuellen Kontext von Populismus, Nationalismus, Religion, hierarchischen Unternehmensstrukturen und abhängiger Lohnarbeit.
Mit besten Grüßen
Stefan
P.S.: Auch auf der #NKNA20 wird die Kunst wieder eine Rolle spielen, seid gespannt, was Euch erwartet.
Bildquellennachweis:
Fotos Installation – eigene; Skizze Triskele – pixabay, CC-0 Lizenz, gemeinfrei
Hinweis: Der untere Teil des Artikels zur Installation erschien in ähnlicher Form zuerst unter: https://priomy.de/die-angst-vor-der-freiheit-vom-buckeln-und-treten/