Oder konkreter gefragt: Was kann New Work im Sinne von selbstbestimmtem und eigenverantwortlichem Arbeiten von der Anarchie lernen? Diese Frage beschäftigt mich seit ich entdeckt habe, dass hinter dem Begriff der Anarchie wesentlich mehr steckt, als das, was die meisten darunter landläufig verstehen. Ich würde die Frage im Moment so beantworten: Ich glaube, eine ganze Menge! Denn im Anarchismus stecken naturgemäß große Portionen Selbstverwaltung, Selbstorganisation und Eigenverantwortung. Und je mehr ich mich mit der Anarchie beschäftige, umso mehr Impulse und spannende Ideen für meine Beschäftigung mit selbstbestimmtem Arbeiten begegnen mir. In diesem Blogartikel, räume ich erst einmal mit ein paar Stereotypen auf und gebe einen Überblick, was Anarchismus alles sein kann.
Anarchie!? Das war für mich bis vor kurzem noch mit Chaos, Punk und einer durchaus gewalttätigen Konnotation verbunden. Dass dahinter freilich mehr steckt, ahnte ich bereits während der Lektüre von Pankaj Mishra’s Buch „Das Zeitalter des Zorns“. Mishra fokussiert leider allein auf die Auswirkungen der anarchistischen Ideen auf frustrierte junge Männer Ende des 19. Jahrhunderts, die sich im Kontext der fortschreitenden industriellen Revolution, dem erstarkenden Kapitalismus und dem „Fin de siècle“ abgehängt sahen. Diese brachten mit ihren Bomben und Attentaten innerhalb von ein paar Jahren ein verzerrtes Bild des Anarchismus in die Welt, welches heute häufig mit „der Anarchie“ gleichgesetzt wird: Chaos, Gesetzlosigkeit und Gewalt.
Die Namen Bakunin, Kropotkin und Proudhon, allesamt (Vor-)Denker des Anarchismus, blieben mir dennoch im Gedächtnis – ging es doch in ihren Ideen um Selbstorganisation und Eigenverantwortung ohne formale Hierarchien. Da ich aber mit Bombenlegern und Assassinen nicht viel am Hut habe, beschäftigte ich mich zunächst nicht weiter mit der Anarchie.
Kein Gott, kein Herr – Anarchie!
Das änderte sich abrupt als ich die Arte-Dokumentation „Kein Gott, kein Herr – eine kleine Geschichte der Anarchie“ sah. Darin rücken die Macher der Sendung Einiges zurecht, was in den letzten rund 150 Jahren alles an Mythen, Lügen und Legenden um den Anarchismus gestrickt wurden, um die Macht der aufkommenden Nationen, Religionen, Institutionen, Ideologien und Organisationen zu erhalten. Im Gesamtkontext gesehen, ist es für mich dann nicht mehr so wahnsinnig verwunderlich, dass in der revolutionsträchtigen und kriegerischen Zeit von 1848 bis in die 1920er Jahre immer wieder Gewalt von Anarchisten eingesetzt wurde. Teils moralisch völlig unverständlich und verwerflich, oft aber aus purer Notwehr, um zu überleben.
Viel fesselnder fand – und finde ich immer noch – die Ideen des Anarchismus rund um die Selbstorganisation und Gleichberechtigung, die nicht nur reine Phantasie- und Theoriegebilde sind. In Horst Stowasser‘s Standardwerk „Anarchie!“ fand ich eine phantastische, größtenteils vergessene Geschichte der Selbstorganisation mit vielen Ideen, Abzweigungen und letztlich auch vielen „Lessons learned“. Die Geschichte des Anarchismus offenbarte sich mir als eine aufregende Fundgrube für Menschen, die sich mit selbstbestimmtem und eigenverantwortlichem Leben und Arbeiten beschäftigen. In zahllosen Projekten und Reallaboren probierten, testeten und entwickelten Menschen Formen der Selbstorganisation, die von der kleinen Kommune, über die Fabrik und über Organisationen, bis hin zu ganzen Regionen hinweg auch wirklich über längere Zeiträume intakt waren. Einige davon endeten in einer Sackgasse, weil die Ideen schlicht nicht funktionierten, viele davon wurden gewaltsam beendet und einige wenige haben bis in die heutige Zeit überlebt.
Was ist denn jetzt eigentlich Anarchie?
Die eine Anarchie oder den einen Anarchismus gibt es nicht, das wäre schon ein Widerspruch in sich selbst. Der Anarchismus ist eine vielfältige und damit auch sehr widersprüchliche Bewegung mit sehr unterschiedlichen Ansichten, wohin der Weg führt.
Horst Stowasser, formuliert in seinem Buch eine Kurzdefinition, welche nach seiner Lesart die Gemeinsamkeiten von Anarchisten zeigt:
„Anarchisten streben ein freie Gesellschaft der Gleichberechtigung an, in der es keine Herrschaft von Menschen über Menschen mehr gibt. Die Mitglieder einer solchen Gesellschaft sollen befähigt und ermutigt werden, ihre privaten und gesellschaftlichen Bedürfnisse ohne Hierarchie und Bevormundung mit einem Minimum an Entfremdung selbst in die Hand zu nehmen. So soll eine andere Ordnung entstehen, in der Prinzipien wie die „Freie Vereinbarung“, „gegenseitige Hilfe“, und „Solidarität“ an die Stelle heutiger Realitäten wie Gesetze, Konkurrenz und Egoismus treten könnten.
Autoritärer Zentralismus würde durch Föderalismus ersetzt: die dezentrale Vernetzung kleiner und überschaubarer gesellschaftlicher Einheiten. Menschenverachtende und umweltzerstörende Gigantomanie wären dann absurd; an ihre Stelle träten freie Zweckzusammenschlüsse, die die Menschen auf der Basis gleicher Rechte und Pflichten direkt miteinander eingingen.
Besonders originell an diesen Vorstellungen ist die Idee, dass es auf einem geografischen Gebiet nicht mehr nur eine Gesellschaft gibt, einen für alle verbindlichen Staat, sondern eine Vielfalt parallel existierender gesellschaftlicher Gebilde. „Anarchie ist eine Gesellschaft von Gesellschaften von Gesellschaften“, wie es der anarchistische Philosoph Gustav Landauer einst formulierte. Kurzum, und etwas einfacher gesagt: Anarchie ist nicht Chaos, sondern Ordnung ohne Herrschaft.“ (Stowasser, 2007)
Alleine darin stecken schon so manche Ansätze, mit denen wir heute arbeiten und mit denen ich mich noch ausführlicher auseinandersetzen werde. Hinzu kommen noch drei libertäre Grundsätze, nach denen Anarchisten ihre Aktionen idealerweise ausrichten sollten.
1. Menschliche Ethik über formalem Recht
Wo eine Regel oder ein Gesetz in einer konkreten Situation keinen Sinn macht, wird es in Frage gestellt.
2. Spontaneität
Jeder Mensch ist frei, zu handeln, wie er es gegenüber seinen eigenen Überzeugungen und auch seinen Mitmenschen verantworten kann. Hier gilt es, die richtige Balance zwischen Autonomie und Bindung zu finden.
3. Die Anwesenheit des Ziels in den Mitteln
Was erreicht werden soll, muss in der Wahl der Mittel und Methoden zum Ausdruck kommen. Zum Beispiel kann Freiheit nicht durch Folter, Glück nicht durch Zwang und eine andere faire Wirtschaft nicht dadurch erreicht werden, dass weiterhin Menschen ausgebeutet werden.
Genug Stoff, um sich weiterhin damit auseinanderzusetzen und darüber nachzudenken, was sich aus den vielen gelungenen und gescheiterten Anarchie-Projekten für selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Arbeiten ableiten lassen könnte. Ich glaube darin liegt ein großer Erfahrungsschatz verborgen, der darauf wartet, gehoben zu werden.
Zum Abschluss noch eine nette und aufschlussreiche Anekdote, die dieses Potential zeigt. Als Horst Stowasser bei den Recherchen zu seinem Buch mit einer älteren Dame über den Sommer der Anarchie in Barcelona – der während der spanischen Revolution stattfand – sprach, sagte sie zu ihm: „Ja, ja die Anarchisten. An die kann ich mich noch gut erinnern. Das waren wilde Gestalten. Aber eines muss man ihnen lassen: Die U-Bahn fuhr nie so pünktlich wie zu dieser Zeit.“
Mit besten Grüßen
Stefan
Literatur:
Stowasser, H. (2007): Anarchie! – Nautilus Verlag
Beitragsbilder:
Bakunin – Pixabay (CC0 Creative Commons), bearbeitet
Anarchie-Logo – Pixabay (CC0 Creative Commons), bearbeitet
Video:
Die Dokumentation „Kein Gott, kein Herr – eine kleine Geschichte der Anarchie“ ist leider nicht mehr in den Mediatheken von Arte und der ARD verfügbar, aber googeln hilft hier weiter.
Hinweis:
Dieser Artikel ist eine überarbeitete Version meines Artikels „Ist New Work Anarchie?“, der im Unternehmensdemokraten-Blog veröffentlicht wurde.
Ziemlich bei Dir Stefan,
alleine der Halbsatz “ ihre privaten und gesellschaftlichen Bedürfnisse ohne Hierarchie und Bevormundung mit einem Minimum an Entfremdung selbst in die Hand zu nehmen. “ passt imho nicht – es gibt nie Gruppen / soziale Gefüge ohne Hierarchie – wie auch immer diese dann ausgebildet ist…
lg Dirk
Hallo Dirk,
danke für den Hinweis, da lohnt es sich tatsächlich genauer hinzuschauen. Ich gehe mit Dir überein, dass sich in Gruppen immer wieder formelle oder informelle Hierarchien bilden. Wichtig ist, wie ich finde, dass sich diese Hierarchien nicht verfestigen und dazu führen, dass die Menschen auf Dauer nicht mehr gleichberechtigt sind. Und da bin ich dann wieder bei Stowasser, wenn er schreibt, dass die Menschen befähigt und ermutigt werden sollen, mit einem Minimum an Entfremdung ihre privaten und gesellschaftlichen Bedürfnisse selbst in die Hand zu nehmen.
Viele liebe Grüße
Stefan