Vor einigen Wochen saß ich in einer Veranstaltung, in der über „Digitalisierung und Werte“ gesprochen wurde. Der von mir geschätzte Keynote-Speaker André Reichelt referierte ausführlich über die verschiedenen Aspekte des Themas und sprach über viele gescheite Sachen. Mit zunehmender Fortdauer seines Vortrags irritierte mich aber etwas. Nahezu jeden Punkt, den er ansprach, beendete er mit der Feststellung, dass das Thema komplex wäre, niemand so genau wüsste, wie sich dieses und jenes entwickelt und er keine Ahnung hätte, wie das zu lösen sein. Eines wäre aber wichtig: in den Diskurs darüber zu gehen.
Soweit so gut, wir leben in einer „VUCA-Welt“, da ist vieles nicht vorhersehbar, der Wandel wird stetig schneller und wir müssen schauen, wie wir damit klarkommen. Ja, das mag so sein, war aber immer schon so! Dass sich die Welt weiterdreht und ändert, ist nichts Neues. Und das sich der Mensch daran anpasst, genau so wenig. Aber mir kommt es an vielen Stellen so vor, als ob nur noch darüber gesprochen und gejammert wird, dass ja alles so fürchterlich komplex und kompliziert ist und nicht mehr mittel- und noch weniger langfristig in die Zukunft geplant werden kann. Ja und? Was heißt das? Wir müssen trotzdem Entscheidungen treffen. Gehen wir rechts oder links, machen wir es eckig oder rund, rot oder gelb welche Strategie verfolgen wir, usw.
Kurz zurück zum Vortrag. Nein, ich hatte mir vom Keynote-Speaker keine Antworten gewünscht, schon gar keine endgültigen – da würde ich ja meiner Kultur-Komplizin widersprechen („Warum erwarten wir Antworten?“) – denn alles was er darlegte, konnte ich nachvollziehen und war angemessen. Was mir aber fehlte, waren Impulse, wie dieser Diskurs heute aussieht. Wie schaffen wir es, in einer Welt der immer schneller und mehr verfügbaren Information, Antworten zu finden und Entscheidungen zu treffen? Reden ist dafür zwingend notwendig und nicht verkehrt, gleichwohl sollte daraus über kurz oder lang etwas entstehen, was über warme Worte hinausgeht. Aber wie machen wir das?
Rational oder intuitiv? Weder noch, lasst uns zaudern!
Wie es der Zufall wollte, stolperte ich kurze Zeit nach dem Vortrag im Mannheimer Bahnhofskiosk über eine Ausgabe des „Philosophie-Magazin“. Die Titelstory sprang mich an: „Wie treffe ich eine gute Entscheidung?“. Eine gute Frage! Ich begann sofort im ICE zu lesen, neben anderen hochinteressanten Ansätzen und Impulsen fand ich einen bemerkenswerten Artikel mit dem Titel „Lob des Zauderns“. Die Verfasserin ist Alice Lagaay, Professorin für Ästhetik und Kulturphilosophie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg. Sie bricht in ihren Ausführungen eine Lanze für das Zaudern, das Zögern, das Pausieren. Ich erinnerte mich an den Vortrag und an das Interview mit Ralf Volkmer, welches Daniela und ich wenige Stunden zuvor geführt hatten. Ralf fragte in unserem Gespräch, ob es ein mitteleuropäisches „Problem“ wäre, dass wir extrem detailversessen über alles Nachdenken und Diskurse führen. Ob wir so ein tiefgreifendes Gespräch über Komplexität und Transformation auch in den USA, im Silicon Valley auch führen würden, oder ob die das einfach durchzögen. Ich antwortete darauf, dass ich es nicht als Problem, sondern als großen Vorteil, als ausgleichendes Element sehe, dass wir Europäer – zumindest manchmal – zuerst darüber nachdenken, was die Konsequenzen unseres Tuns sind. Dass wir nicht blind jedem Hype der Tech-Konzerne hinterherrennen, ab und zu auch einmal Facebook, Google und Co. in die Schranken verweisen.
Zaudern, um selbstbestimmt zu handeln
Beim Lesen des Artikels wurde mit bewusst, dass wir uns mit diesem Zögern und Zaudern ein Stück Selbstbestimmung und Gestaltungsmacht erhalten. Und darauf sollten wir selbstbewusst beharren. Denn mit einem Zögern unterbrechen wir den Fluss des gewohnheitsmäßigen Handelns, dem unreflektierten, bequemen Mitschwimmen im Strom. Wir stören das System, indem wir kurz innehalten und uns Zeit nehmen. Zeit, in der wir uns in die eigene Gedankenwelt in unseren Imaginationsraum zurückziehen. Wir wechseln unsere Perspektive, entwickeln neue Ideen und verwerfen sie wieder, indem wir uns vorstellen, welche Auswirkungen unterschiedliche Entscheidungen hätten, die wir treffen könnten. Nur so sind wir in der Lage, Verantwortung dafür zu übernehmen, was wir entscheiden.
Lagaay beschreibt das sehr treffend so:
„…sich in der Ökonomie der Zurückhaltung üben, schafft die Gelegenheit des Zweifels und der Sammlung. Anstatt aus Gewohnheit zu handeln oder eines anderen Führung unkritisch zu befolgen, können wir den Raum des Zauderns nutzen, um Verantwortung für die nächsten Schritte zu übernehmen. […] Das Zögern ist damit kein Ausweichen vor Verantwortung oder gar eine Charakterschwäche, sondern ureigene Bedingung von Individualität und verantwortlichem Handeln – Grundvoraussetzung für Mündigkeit.“
Spätestens an der Stelle musste ich innerlich zurückrudern, André Reichelt hatte Recht. Ja, wir müssen Zögern und Zaudern, in den Diskurs gehen, die Dinge drehen und wenden und miteinander besprechen. Ich war in die Falle getappt, eine konkrete Lösung zu suchen, aber die gibt es halt nicht. Wir müssen miteinander sprechen und uns immer wieder die Zeit nehmen und die Mühe machen, den für uns besten Weg suchen, anders geht es nicht.
Vom Zögern zum Handeln
In der Einleitung zum Dossier „Entscheiden“ im Philosophie-Magazin wird der Weg des Zauderns als eine Alternative zu rationalen, datengetriebenen Entscheidungen und zur intuitiven Bauchentscheidung vorgestellt. Ich persönlich sehe das Zaudern als Mittelweg dazwischen. Sich Zeit nehmen abzuwägen, zu reflektieren, was die mir zur Verfügung stehenden Fakten bedeuten. In mich hineinzuhören, erste intuitive Impulse evtl. auch vorbeiziehen lassen und dann entscheiden und handeln. Wichtig ist aber eben auch ins Tun zu kommen und nicht in den Gedanken und Gesprächen stecken zu bleiben. Sonst geht es uns wie Buridans Esel, der zwischen zwei Heuhaufen verhungert, weil er sich nicht entscheiden kann, von welchem er zuerst fressen soll. Oder wie Alice Lagaay es auf Basis der altgriechischen sophrosyne formuliert: „Wahren Wert erhält auch diese Haltung nur, wenn sie von der Besonnenheit der Mäßigung gekennzeichnet ist.
Mit besten Grüßen
Stefan
Quelle:
Philosophie Magazin 02/2019, Alice Lagaay: „Lob des Zauderns“
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