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Wenn ich in ein paar Jahren an das Jahr 2016 zurückdenke, wird es, unabhängig von dem, was noch passieren wird, das Jahr sein, in dem David Bowie starb. Stefan und ich, die Kultur-Komplizen, waren und sind David-Bowie-Fans, lange bevor wir zu Kultur-Komplizen wurden. Seine Musik – in Text, Konzept und akustischem Arrangement – zog sich durch unser Leben und wird das auch weiterhin tun. In unserem Blog werden wir 2016 eine kleine Reihe von Artikeln zu David Bowie veröffentlichen – in Hochachtung vor einem außergewöhnlichen Künstler.

Hat Bowies Kunst etwas mit unserer Arbeit zu tun?

Definitiv und ohne Einschränkung. David Bowie war die Transformation schlechthin. Er transformierte sein Aussehen, seinen Stil, seine musikalischen Werke. Wenn es eine Konstanz in seinem musikalischen Leben gab, dann war es der Wandel. Er brach Muster. Er beobachtete den Zeitgeist und dachte darüber hinaus. Er war ein erfolgreicher Unternehmer, der es verstand sich selbst als Marke zu installieren. Und dabei authentisch zu bleiben. Er war durchlässig für Einflüsse, die seine Kunst beeinflussten, und wirkte selbst prägend auf eine Vielzahl anderer Künstler. Er re-arrangierte schon Vorhandenes und setzte Bekanntes neu zusammen. Er gilt uns als Impulsgeber für unser Denken. Seine Fähigkeiten sind heute gefragter denn je, denn im Arbeitsleben wie im Privatleben brauchen wir genau diese Fähigkeiten um weiterzudenken. Es ist notwendig, Muster zu erkennen, sie zu hinterfragen und sie zu brechen, damit wir geistig wachsen und zukunftsfähig werden. Wir müssen Fragmente dieser Muster beobachten und neu anordnen, um reflektieren zu können. Unsicherheit ist nicht unser Feind, sondern Komplize.

Artikelreihe zu Bowie mit Gedanken- und Erinnerungsbild

In unserer Bowie-Hommage nehmen wir uns in jedem Artikel ein Element aus seinem Schaffen vor und spinnen darum ein gedankliches Bild. Vielleicht ist „Starman“ dabei, vielleicht aber auch nicht. Das wissen wir noch nicht. Wenn wir Songs auswählen, spiegeln diese nicht unbedingt unsere David-Bowie-„Best of“, sondern vielmehr das, was die Songs bei uns angestoßen haben. Diese Gedanken sind offen – sie sollen dem/der Lesenden Raum zum Weiterspinnen lassen – ganz im Sinne der Herren Luhmann, Barthes und Foucault soll der Rezipient dem Werk seinen eigenen Sinn geben.

Plattencover, Song, Album: „The man who sold the world“ (1970/1971)

Ich will gerne gestehen, dass ich den Song „The man who sold the world“ eigentlich bei Kurt Cobain von Nirvana abgespeichert hatte. Zumindest bis Juni 2014. In diesem Sommer besuchten Stefan und ich die wirklich grandiose Ausstellung „David Bowie is“ im Martin-Gropius-Bau in Berlin. Wer bis dahin nur „Heroes“ oder „Let’s dance“ kannte, musste spätestens dort zum lebenslangen Bowie-Fan werden. Die Wander-Ausstellung des Victoria-und-Albert-Museums London zeigte erstmals eine internationale Retrospektive des Künstlers: eine perfekt inszenierte und interaktive Ausstellung, die einen umfassenden Einblick in Bowies künstlerisches Schaffen ermöglichte. In einem der Räume mit den vielen anregenden Exponaten blieb mein Blick an einem Plattencover hängen. Dort liegt ein langhaariger David Bowie anmutig wie eine Botticelli-Schönheit hingegossen auf einer Chaiselongue vor einem Paravent – im langen, seidig glänzenden, cremefarbenen Kleid mit blauem Blütenmuster, tiefem Dekolleté schwarzem Damenhut auf dem Kopf und Lederstiefeln an den Füßen. Lässig greift seine linke Hand zum Hut, in der rechten Hand hält er die Spielkarte des Karo-Königs, auf dem Boden weitere verstreute Spielkarten. Sein Blick musterte mich provokant bis leicht überheblich. Der Raum hinter ihm eher dunkel und unbestimmt, lange rote samtig anmutende Vorhänge aber keine weiteren Details. Unter ihm eine blaue, üppig drapierte Decke – vielleicht Satin. Der Titel des Longplayers: The man who sold the world, gleichnamig zum Titelsong.

Männer in Frauenkleidern

Die Aneignung von Kleidung, die einem anderen Geschlecht zugeschrieben wird, ist noch gar nicht so alt.  Was z.B. die Hose angeht, die seit ihrer Entwicklung fast ausschließlich den Männern vorbehalten war, fingen Frauen erst Mitte des 19. Jahrhunderts an, sich dieses Beinkleid anzueignen und nutzten es für emanzipatorische Entwicklungen. Diese Entwicklung wurde von großem Widerstand seitens der Männer begleitet, sei es bei den sogenannten „Bloomers“ in Amerika oder bei den „Culottes“ in Frankreich. Die Hose war immer ein Politikum – im Zuge der Emanzipationsbewegung war sie mit einem Machtverlust für Männer verknüpft. Frauen, die Hosen trugen, wurden lächerlich gemacht. Die Aneignung dauerte gute zwei Jahrhunderte: Noch in den 1960er Jahren war der Hosenanzug im Alltag von Frauen eine Ausnahme.

Umgekehrt war es anders: Männer trugen Frauenkleidung, um sich über diese lustig zu machen, nicht aber zur Aneignung. Im Großen und Ganzen ist dies bis heute so geblieben.  In Musik und Kunst war man von jeher freier und ging gelassener mit diesem Thema um. Natürlich wusste ich, dass Bowie schon früher mit Geschlechteridentitäten gespielt hatte und dass seine Androgynität in seinen ersten Jahren als Musiker immer wieder Thema in der Rezeption war. Und nun dieses Cover. Ich schmunzelte, weil er es damit perfekt verstanden hatte, Muster zu brechen und die übliche Perspektive zu wechseln. Anders als in seinen frühen Jahren stattete er sich nun eindeutig mit weiblich konnotierten Attributen aus. Doch war das eine wirkliche Aneignung? Es war nicht die übliche Verkleidung, obwohl es Performance war. Es war ein Konzept der Transzendenz und der Durchlässigkeit – ein fluides Spiel zwischen kulturell erlernten Rollen. Bowie benötigte die tatsächliche Aneignung nicht, denn sie hätte ihn begrenzt.

 

David Bowie Augen

 

Zeit des Experimentierens

Später las ich im Ausstellungskatalog und in einer weiteren Bowie-Retrospektive (siehe „Bowie Retrospektive“, Paolo Hewitt, 2012, S. 35-39) dass das Cover in Haddon Hall entstanden sei – seinem damaligen Domizil im Londoner Stadtteil Beckenham, in dem er mit seiner ersten Frau Angela Barnett lebte. Es muss eine Zeit des Experimentierens gewesen sein – sexuell wie mental, begleitet von Drogenkonsum. Weitere Fotos aus dieser Zeit zeigen David Bowie in weitem Rock, Chiffonbluse und Schlapphut, den Kinderwagen mit Sohn Duncan schiebend, mit langen offenen Haaren im Damenmantel (?) vor  seinem Wohnhaus posierend oder in weiten Marlene-Dietrich-Hosen. In Großbritannien war dies die Zeit des Glam Rocks, feminin konnotierte – meist ironisch überhöhte – Outfits waren nicht unüblich für Männer. Bowies Outfit ging jedoch weiter – mit der Inszenierung des Alltäglichen wie dem Kinderwagenschieben (damals sicherlich noch sogenannte „Frauensache“) – ließ er die Grenzen zwischen Bühnenimage und Privatperson zerfließen. Darüber hinaus setzte er damit auch ein Zeichen als moderner Vater.

Vom Titelsong „The man who sold the world“existiert eine Coverversion (1974), die von Lulu, einer schottischen Sängerin und Schauspielerin gesungen wird. David Bowie hat diese Version selbst produziert. Zudem singt er die Background Vocals und spielt Saxophon. Das Besondere an der Version ist die Inszenierung im Musikvideo: Lulu trägt einen schwarzen Herrenanzug und Hut. Bowie hatte demnach eine Reproduktion mit umgekehrten Vorzeichen geschaffen.

Komplizenschaft oder zusammengewürfelter Haufen?

Glaubt man den Worten Toni Viscontis, Bowies Produzent und Bass-Gitarrist, war Bowie während der Entwicklungszeit dieses Albums nicht wirklich bei der Sache, sondern eher bei seiner frischangetrauten Frau. Nach Abschluss des Space-Oddity-Konzepts war er unschlüssig über die Richtung des neuen Albums. Dies änderte sich, als Bowie im Februar 1970 Mike Ronson, seinen späteren Lead-Gitarristen, kennen lernte. Von diesem ließ er sich zu seinem neuen Stil inspirieren – angelehnt an den Hardrock der damaligen Superband Cream und schuf für das Projekt die Band „David Bowie and the Hype“. Unmittelbar nach den Aufnahmen trennten sich die Akteure. Es scheint, als ob es eine typische temporäre Komplizenschaft (siehe Gesa Ziemer, Komplizenschaft) war – nicht wiederholbar.

Bowies Alleingang

Das Cover des Albums entwickelte Bowie ohne seine Kollegen – die bekamen es erst bei der Veröffentlichung zu sehen. Inhaltlich behandelte das Album harte, komplexe Themen wie Gewalt, Paranoia und Wahnsinn. Spannend in diesem Kontext ist, dass Bowies weiches Outfit in Kontrast zur härteren Musik und zum Inhalt steht. Er wollte um jeden Preis auffallen, sagte Toni Visconti in einem späteren Interview. Dass es nicht alleine darum ging, formulierte David Bowie selbst:

„Ich begriff, dass es mir eigentlich darum ging, berühmt zu werden. Ich wollte, dass man mich als Trendsetter sah und nicht als Modeerscheinung. Ich wollte ein Initiator neuer Ideen sein. Ich wollte die Leute mit neuen Dingen und neuen Perspektiven konfrontieren … “ (David Bowie, 1976; Zitat aus: Bowie Retrospektive, Paolo Hewitt, 2012)

Der Titel des Songs soll an die Geschichte „The man who sold the moon“ von Robert A. Heinlein, eines amerikanischen Science-fiction-Autors angelehnt sein, der darin u.a. Kapitalismuskritik betrieb. Der Inhalt des Liedes soll von „Antigonish“, einem Gedicht von William Hughes Mearns beeinflusst sein, das als Theaterstück für Harvard-Absolventen aufgeführt wurde. Darin geht es um ein von Geistern bewohntes Haus.

King of Diamonds

Auf dem Album-Cover hält David Bowie eine Spielkarte des Karo-Königs in der Hand. Ich habe keine Hinweise darauf gefunden, ob diese eine Aussage hat. Allerdings, wer die Perfektion in der Bowie-Performance kennt, dürfte annehmen, dass die Auswahl der Karte nicht zufällig war. Zunächst habe ich mich gefragt, warum er nicht die Karte der Karo-Queen genommen hat. Dies wäre mir konsequent erschienen. Als ich mir das Video von Lulu nochmal ansah, verstand ich, dass der König die richtigere Wahl war. Lulu ist im Video stark geschminkt auf eine übliche bekannte weibliche Schminkweise und trägt eine rote Rose am Revers. Vergleicht man also beide Inszenierungen ergibt sich ein perfektes Gegensatzpaar: Hier Mann im Kleid mit männlicher Spielkarte (Kartenspiel als männliches Attribut) liegend, dort Frau im Anzug mit weiblicher Schminke und Rose stehend. Lulu übrigens auch vor unbestimmter Kulisse.
Der Karo-König heißt im Englischen King of Diamonds und soll die Figur Julius Caesars repräsentieren. Lagen nicht auch die Römer auf einem Triclinium, der römischen Chaiselongue? Und trugen sie nicht auch lange wallende Gewänder, die man als Kleider interpretieren könnte? Nur eine ganz oberflächliche Idee… Nein, ich glaube, wenn die Karte eine Bedeutung hat, dann auf zwei Ebenen: erstens als Spielkarte, d.h. Bowie spielt tatsächlich wortwörtlich (der King of Diamonds wird auch King of Dices genannt), egal ob es seine Rolle betrifft oder seine tatsächliche Identität. Er spielt mit Perspektiven, Klischees, Vorstellungen, Ambivalenzen. Zusätzlich werden dem King of Diamonds Weisheit und Kraft zugeschrieben, begleitet von einem Führungsanspruch, der philanthropisch gefärbt ist. Könnte das passen? Vielleicht würde ihm die Zuschreibung gefallen.

Versionen des Plattencovers

Insgesamt existierten drei Versionen des Albumcovers. Die USA-Version zeigte ein Comic mit einem bewaffneten Mann mit Cowboyhut vor einem größeren Gebäude, das auch eine Klinik sein könnte – manche interpretieren das Haus als psychiatrische Klinik, in der Davids Bruder Terry sich aufhielt. Auch ein Song auf dem Album soll auf seinen Bruder hinweisen.
Das Cover für Deutschland war psychedelisch angehaucht: es zeigte Bowie als gezeichnetes Fabelwesen mit Flügeln bestehend aus einer Hand, die die Erde mit den Fingern wegschnipst, im Hintergrund Sternbilder.

Lediglich die UK-Version zeigt Bowie im Kleid. War die Version nur den Briten zuzumuten? In einer Fotoversion trägt Bowie ein graues langes Kleid und der Hintergrund zeigt mehr Details, wie Blumen, Vasen und eine kleine Statue. Das Kleid wurde als „man-dress“ bezeichnet, entworfen hatte es „Mr. Fish“, Michael Fish, ein damals bereits bekannter britischer Modedesigner.

Aktuelle Ausstellung über David Bowie

Die V&A-Ausstellung „David Bowie is“ kann man sich übrigens aktuell noch bis zum 10.04.2016 in Groningen in den Niederlanden anschauen: http://www.groningermuseum.nl/de/ab-dezember-2015-david-bowie.

 

Viele Grüße
Daniela

 

Zum Reinhören:
David Bowie: https://www.youtube.com/watch?v=lAy7XYBQwc4
Lulu: https://www.youtube.com/watch?v=TyFAnA9oPRE
Nirvana: https://www.youtube.com/watch?v=fregObNcHC8 (Bonus: Dave Grohl als Milchbubi mit Rollkragen und Pferdeschwanz :-D)

Zum Weiterdenken:
https://de.wikipedia.org/wiki/Robert_A._Heinlein
https://en.wikipedia.org/wiki/Antigonish_%28poem%29

Das Hosenthema:
http://textilegeschichten.net/2015/04/03/ab-wann-trugen-frauen-wirklich-hosen/
https://de.wikipedia.org/wiki/Hose#Geschichte_der_Frauenhose

UK-Albumcover:
https://en.wikipedia.org/wiki/The_Man_Who_Sold_the_World_%28album%29#/media/File:TheManWhoSoldtheWorld.jpg

 

Teil 2 – Scary Monsters