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Wie kann es sein, dass wir zusammen ein Ziel erreichen wollen und gleichzeitig nicht kooperieren? Diese Frage formulierte ich während eines Workshops mit dem allgemeinen Thema: „Mit Konflikten wachsen“. Was mir dort ohne lange darüber nachzudenken aus den Fingern auf das Papier floss, beschäftigt mich im Nachhinein weiter. Warum ist das überhaupt so? Weshalb schaffen wir Menschen es, gemeinsame Vorstellungen und Ziele zu haben, sie aber nicht zu erreichen, weil wir uns auf dem Weg dahin immer wieder in Konflikten verstricken? Dieser Artikel bietet dazu eine Perspektive auf Basis eines Strings der Liberating Structures Usergroup Stuttgart.

Der String, auf den ich mich hier beziehe, wurde mit einer bunt gemischten Gruppe durchgeführt, die sich nur teilweise kannte. Das Thema wurde vorab bekannt gegeben, ich denke freilich, dass sich niemand im Speziellen darauf vorbereitet hatte. Daher finde ich es interessant zu vergleichen, was in der Gruppe spontan entstand, welche Erfahrungen ich gemacht habe und was ich im Nachhinein dazu an Material fand.

1-2-4-all: Welche Gegensätze treffen in Konflikten typischerweise aufeinander?

Schauen wir zunächst einmal auf den String. Wir begannen mit der Struktur 1 – 2 – 4 – All (wer die Liberating Structures noch nicht kennt, dem sei dieser Artikel ans Herz gelegt: Liberating Structures – nur eine neue Toolbox oder mehr?) Die dazugehörige Frage lautete: Welche Gegensätze treffen in Konflikten typischerweise aufeinander? Alle Teilnehmenden machten sich zuerst alleine ihre Gedanken, tauschten sich danach in Zweiergruppen, dann in Vierergruppen aus, um zum Abschluss der Struktur eine gemeinsame Antwort der Gruppe im Plenum vorzutragen.

Die Antworten der unterschiedlichen Gruppen waren vielfältig – eine Übersicht:

  • Mut und Angst
  • Unterschiedliche Ebenen der Kommunikation treffen aufeinander/werden nicht wahrgenommen und nicht bearbeitet
  • Unterschiedliche Wertvorstellungen
  • Unterschiedliche Perspektiven/unterschiedliche Ansichten/Standpunkte in Kombination mit der Art der Kommunikation
  • Ratio vs. Emotio
  • Sachliche Auseinandersetzung vs. emotionale Auseinandersetzung

Im Nachhinein fiel mir auf, dass ich weder für mich selbst, noch die Gruppe für sich geklärt hatte, wie ein Konflikt definiert ist und was wir darunter verstehen. Ich recherchierte also nachträglich und fand einen Artikel bei der Bundeszentrale für politische Bildung. Darin findet sich folgende allgemeine Beschreibung, die für den Ehe-Streit, den Tarifkonflikt und desgleichen für eine bewaffnete Auseinandersetzung gilt:

Jeder Konflikt umfasst idealtypisch drei Komponenten:

  • ein widerstreitendes Verhalten der Konfliktparteien, das den Konflikt anzeigt und ihn allzu oft weiter verschärft (z.B. Achtlosigkeit, Kommunikationsverweigerung, Konkurrenz, verbale Angriffe, physische Gewalt),

  • unvereinbar erscheinende Interessen und Ziele der Konfliktparteien (z.B. Streben nach sozialer Anerkennung oder nach materiellem Gewinn, Verfolgung von Demokratie oder Autokratie als ideale Staatsform),

  • unterschiedliche Annahmen und Haltungen der Beteiligten in Bezug auf die Ursachen des Konflikts, ihre eigene Stellung/Rolle innerhalb des Konflikts und die Bewertung der anderen Konfliktparteien (z.B. Stereotype, Vorurteile und Feindbilder).

Wenn ich mir die beiden Ergebnisse so ansehe, steckt da in der gemeinsamen Erarbeitung aus der 1-2-4-All Struktur schon eine ganz Menge drin, was sich auch in der Definition wiederfindet. Das Kollektiv hat ganz gut zusammengetragen, was ein Konflikt ist und was darin passiert.

Wicked Question: Wie kann es sein, dass wir zusammen ein Ziel erreichen wollen und gleichzeitig nicht kooperieren?

Die zweite Struktur des Strings, die wir durchliefen, nennt sich „Wicked Questions“. Wir fanden uns dazu in neuen Fünfergruppen zusammen. In der ersten Minute formulierte jede Person auf Basis der bisherigen Ergebnisse eine verzwickte Frage nach dem Muster: „Wie kann es sein, dass … und gleichzeitig …“. Diese Fragen diskutierten wir danach in unseren Gruppen und mussten uns für eine entscheiden, die wir danach wieder im Plenum vortrugen.

Die Wicked Questions der einzelnen Gruppen im Überblick:

  • Wie kann es sein, dass wir zusammen ein Ziel erreichen wollen und gleichzeitig nicht kooperieren?
  • Wie kann es sein, dass wir rational argumentieren und gleichzeitig emotional entscheiden?
  • Warum wollen wir, dass andere unsere Werte teilen ohne, dass wir die der anderen akzeptieren?
  • Wie kann es sein, dass wir uns sehr schätzen, aber dauernd angreifen?
  • Wie kann es sein, dass wir unterschiedliche Ansichten haben und gleichzeitig das gleiche Ziel?
  • Wie kann es sein, dass wir die gleichen Werte teilen und gleichzeitig unterschiedliche Vorstellungen haben?

Und da wird es jetzt spannend, denn diese Fragen spiegeln meiner Ansicht nach sehr gut wider, was Johan Galtung in seinem Konfliktdreieck beschreibt und teils beantwortet.

Dem sichtbaren Verhalten stehen unsichtbare Annahmen und Haltungen, sowie Interessen und Ziele gegenüber. Wir spekulieren darüber, was das Gegenüber wirklich „im Schilde“ führt. Was verstecken Menschen hinter ihrem Verhalten, meinen sie wirklich, was sie sagen und tun? Wir misstrauen und glauben den Menschen nicht, was sie sagen – und das nicht selten zu Recht. Das zeigte sich dann auch sehr anschaulich in der folgenden Struktur:

Improv Prototyping: Wie sieht das in der Praxis aus?

Als dritte und letzte Struktur kam an diesem Abend das Improv Prototyping zum Einsatz. In den zuvor gebildeten Fünfergruppen überlegten wir uns, wie wir die im Plenum ausgewählte Wicked Question in ein Szenario übertragen, welche Rollen es in diesem Szenario gibt und wer aus unserer Gruppe diese Szene nachspielt. Der Rest der Gruppe fungierte als Beobachter und gab Feedback, um die Szene Peu à Peu zu verfeinern. Die Szene sollte einmal so gespielt werden, dass die Parteien auf Konfrontation gehen und kein Interesse an einer sachlichen Einigung haben. In einem zweiten Durchgang sollten die Rollen so gespielt werden, dass auf einer sachlichen Ebene versucht wird, eine Lösung zu finden.

Wir hatten uns ein Szenario überlegt, in dem sich ein Software-Entwickler und die Marketing-Verantwortliche darüber „streiten“, wann eine neue App auf den Markt kommen soll. Die Entwicklung kann den ursprünglich genannten Termin nicht halten und möchte die App nicht ungetestet und mit Fehlern behaftet herausgeben, während das Marketing auf den veröffentlichten Termin beharrt – ein der Gruppe nicht ganz unbekanntes Szenario. Unsere beiden „Schauspieler“ agierten wirklich klasse und gingen schon nach kurzer Zeit in ihren Rollen auf. Ohne das oben genannte Dreieck zu kennen, wurde aus der ersten Runde ein kapitaler emotionaler Streit, der kaum mit Fakten geführt wurde. Für uns Beobachtende war wunderbar ersichtlich, dass die Marketerin dem Entwickler unterstellte, zu faul und zu bequem zu sein, den Termin einzuhalten. Sie forderte immer wieder dazu auf, den Launch hinzubekommen: „Dann müsst ihr halt mal mehr arbeiten und Überstunden machen“. Worauf der Entwickler „natürlich“ erwiderte, dass die Entwicklung bereits an der Kapazitätsgrenze sei und es einfach nicht geht. Ursachenforschung oder eine Lösung, wie das gemeinsame Ziel zu erreichen sei, fand praktisch nicht statt. Während die eine Seite auf dem Termin beharrte, wich die andere nicht davon ab, noch mindestens vier Wochen mehr Zeit zu brauchen. Die eine Seite unterstellte der anderen, das gemeinsame Ziel nicht zu verfolgen und andere Interessen im Hintergrund zu haben, ohne dies jeweils konkret auszusprechen. Das führte zu einer Spirale, die die Emotionen und damit den Konflikt hochkochen ließen.

In der zweiten Runde gingen die beiden das Gespräch sachlicher an. Während sie zunächst weiterhin beide auf ihrem Standpunkt beharrten, fingen sie an zu erklären, warum es zu dieser Situation kam und weshalb es ihnen jeweils wichtig war, den Termin zu halten, bzw. zu verschieben. Die Interessen klärten sich und beide Seiten offenbarten ihre Haltung zu dem Thema. Durch diese Transparenz wurde ein Kompromiss ermöglicht, mit dem beide gut leben konnten. Ein sehr vereinfachtes, aber schönes Beispiel für das Konfliktdreieck.

Mein Fazit

Ich finde es erstaunlich, dass wir in dieser kurzen Zeit mit ca. 40 Leuten zu einem solchen Ergebnis kamen – welches ich im Nachhinein noch weiter bearbeiten kann und mich noch in weiteren Artikeln beschäftigen wird. Dabei war das Thema noch nicht einmal der Vordergrund, sondern das Probieren und Kennenlernen der Strukturen. Ich muss sagen, dass ich ein immer größerer Fan der Liberating Structures werde. Dafür einen großen Dank an die Organisatoren der Usergroup Stuttgart!

Quellen und Links:
http://www.bpb.de/internationales/weltweit/innerstaatliche-konflikte/54499/konfliktdefinition
https://www.meetup.com/de-DE/Liberating-Structures-Meetup/
https://www.liberatingstructures.de/

Bildquellennachweis:
Grafik – eigene; Headerfoto – pixabay, CC-0 Lizenz, gemeinfrei, bearbeitet